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Taktik und Kopfsache: 150 Kilometer in 2 Tagen (mit Gepäck) - wie ist das zu packen?

 
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Seit Kindheit an teste ich gern die eigenen Grenzen aus. Einst in den 1980ern schnappte ich mir einen kleinen grünen Rucksack, in dem ein Kanten Brot und ein Jagdmesser mit Hirschgriff verstaut waren, und marschierte als 12-Jähriger vor den Toren Ost-Berlins quer durch die Waldgebiete in Richtung Münchehofe, Schöneiche und Rahnsdorf. Im Vorfeld studierte ich eine Landkarte und suchte mir eine Route heraus, auf der ich möglichst wenige Wege und Straßen kreuzen würde. Ich wollte allein sein und lieber abseits der Wege durch Dick und Dünn marschieren. Es war wenig verwunderlich, dass später als Erwachsener ausgedehnte Reisen und Wanderungen folgen würden. Mit einem besten Freund wanderte ich im Sommer 1993 durch den Banff Nationalpark in den kanadischen Rocky Mountains - und wir bekamen als damals 20-Jährige ganz klar die eigenen Grenzen aufgezeigt. Wir hatten schlichtweg viel zu wenig Proviant für die einwöchige Wanderung dabei und bekamen nach dem vierten Tage echte Probleme. Im wahrsten Sinne des Wortes mit allerletzter Kraft erreichten wir Lake Louise. Hätten wir oben an einem der Bergpässe einen falschen Pfad gewählt, wäre an eine Rückkehr nicht zu denken gewesen. Bereits auf der optimalen Route kam es am Abend des fünften Tages zu Halluzinationen und einem Zusammenbruch bei leichtem Nieselregen. Die Ausrüstung (Funktionskleidung hatten wir damals noch nicht am Start) war schlichtweg zu schwer, die Wanderstiefel waren nicht optimal eingelaufen, und die mitgenommenen Essensvorräte waren im Nachhinein betrachtet ein echter Witz.

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Aus den gravierenden Fehlern, die in Kanada ohne zu übertreiben das Leben hätten kosten können, hatten wir reichlich gelernt. Auf späteren ausgedehnten Wanderungen wurde das Ganze weitaus taktisch kluger angegangen. Gepäck und Kleidung wurden - soweit es die finanziellen Möglichkeiten zuließen - optimiert, die jeweiligen Etappen wurden so gestaltet, dass diese in der Regel körperlich machbar waren. Wer einmal die eigenen körperlichen Grenzen ausgetestet hat, weiß, ab wann es nicht nur weh tut, sondern wirklich Schluss ist.

 

Ausgedehnte Wanderungen durch das Riesengebirge und die Hohe Tatra, durch den Südwesten Irlands und den Itatiaia-Nationalpark in Brasilien, auf dem West Highland Way in Schottland und dem Camino de Santiago de Compostela (Jakobsweg) wurden in den Folgejahren erfolgreich in Angriff genommen. Der Höhepunkt war mit Sicherheit die über 1.000 Kilometer lange Wanderung entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze im heißen Sommer 2003. Gemeinsam mit Karsten ging es von Süd nach Nord. Von Prex nach Priwall in fünf Wochen. Mit dabei ein Zelt und reichlich Diafilme. Nach kleinen Optimierungen am fünften Tag der langen Tour verlief das Ganze trotz der hohen Temperaturen optimal. 

 

Kürzlich beim Sortieren der Fotos und Notizen vom Sommer 2003 keimte die Idee auf, noch einmal die rund 170 Kilometer lange Tour auf dem Berliner Mauerweg in Angriff zu nehmen. Sozusagen als kleines Projekt für zwischendurch. Im Juli 2001 wanderten Karsten und ich als Vorbereitung für die große Grenztour den Berliner Mauerstreifen im Uhrzeigersinn ab. Mit Rucksack und Zelt auf dem Rücken benötigten wir damals viereinhalb Tage. Das müsste locker auch in drei Tagen zu schaffen sein, dachte ich mir im vergangenen Juni. Für ein Buchprojekt über die Grenztouren (inklusive Radtouren am Iron Curtain Trail) wollte ich einen aktuellen Aufhänger haben und plante demzufolge die Wanderung einmal um das ehemalige Westberlin. 

 

Auf der Suche nach einem Campingplatz stach Kladow sofort ins Auge, und als ich die Strecke vom Denkmal an der Kiefholzstraße in Treptow, das ich als Startpunkt auswählte, bis nach Kladow ausrechnete, kam ich auf rund 70 Kilometer. Ich studierte immer wieder die Route und kam zum Entschluss, das Ganze an zwei Tagen umzusetzen. Ich optimierte ein klein wenig die Strecke und kam letztendlich auf insgesamt 150 Kilometer. Die besagten 70 am ersten Tag, am zweiten Tag noch einmal 80 Kilometer. Ob das zu schaffen sei? Das fragte ich mich auch, zumal das Wetter gerade extrem heiß war.

Augen zu und durch, lautete mein Motto. Ich zog den Zeitplan vor und beschloss, gleich am kommenden Morgen zu starten. Ich packte den Rucksack und staunte, was für die zwei Tage alles zusammenkam. Ein kompaktes kleines Zelt, ein Sommerschlafsack, ein paar Wechselklamotten, Trockenfutter (Nüsse und Rosinen) und reichlich Wasser. Über die einzelnen Abschnitte des Mauerweges hatte ich in einem anderen Text ausführlich berichtet. An dieser Stelle möchte ich allein auf den sportlichen Aspekt eingehen. 

Früh los sollte es am ersten Tag gehen, ganz früh. Der Wecker klingelte um 3:30 Uhr, eine halbe Stunde später fand ich mich auf den morgendlichen Straßen Berlins wieder. Die Entscheidung, sich richtig früh aus der Koje zu pellen, war goldrichtig. Mit sieben bis acht km/h marschierte ich die ersten vier Stunden durch und erfreute mich gegen acht Uhr am Stand der Dinge. Ein Blick auf die Karte, dann wurde eine kurze Pause bei einem Bäcker eingelegt. Die Betonung liegt auf „kurz“. Lange Pausen gab es während der zweitägigen Mammutstrecke keine. Füße und Muskeln mussten stets warm bleiben. Hätte ich mich - vor allem zweiten Tag - zwischendurch einmal richtig lang gemacht für eine Stunde, wäre es niemals möglich gewesen, die insgesamt 150 Kilometer zu packen.

 

Nach einem leckeren Erdbeertörtchen und einem kleinen Kaffee ging es sogleich weiter. Tempo halten! Zirka sieben Kilometer pro Strecke wurden anvisiert. Langsam stieg die Sonne, doch glücklicherweise kam sie von schräg hinten. Auch dies sollte bei einem persönlichen Rekordversuch stets beachtet werden. Wasser, Wasser, immer wieder Wasser. Klingt plausibel, doch es kann gar nicht oft genug betont werden, dass das Trinken immens wichtig ist. Ein Handvoll Wasser auf die Haare und ins Gesicht - schon konnte es weiter gehen. Ebenso wichtig war der stets getragene Sonnenhut.  

Nach 50 Kilometer kamen am ersten Tag die ersten leichten Schmerzen in den Füßen. Der Asphalt des Mauerradweges zeigte Wirkung. Die Fußsohlen brannten leicht, die kleinen Zehen fühlten sich nun arg eingeengt. Wieder einmal zeigte sich, dass heutzutage Wanderschuhe vorn aus modischen Gründen zu schmal geschnitten sind. Was auf eher kürzeren Strecken keine große Mandoline spielt (zudem lassen sich flache Wanderschuhe aufgrund des modischen Schnitts auch gut im Alltag tragen), kann bei Strecken jenseits der 50-km-Marke erhebliche Probleme bereiten. Ich hätte nicht erwartet, dass vor allem der Druck am linken kleinen Zeh solche große Schmerzen verursachen würde. Die Blasen hielten sich indes am ersten Tag noch in Grenzen.

Nach den ersten 50 Kilometern drosselte ich mein Tempo und pendelte mich auf rund fünf km/h ein. So oder so lag ich voll im Zeitplan. Gegen 18 Uhr erreichte ich mein Tagesziel und baute das kleine Zelt auf. Schlurfend suchte ich das Waschgebäude auf und setzte mich anschließend in den Biergarten des Campingplatzes. Wurst bitte, Kartoffelsalat, dazu ein Bier und ein Radler. Ich streckte die Beine aus und horchte in meinen Körper. Die Muskeln der Beine waren erstaunlich fit, die Füße indes bereiteten mir Sorgen. Ich legte mich ohne Isomatte ins Zelt und versuchte eine halbwegs bequeme Schlafstellung zu finden. Die Füße wummerten, die Schultern fühlten sich angespannt an. Morgens um sechs kamen Schmerzen an den Hüftknochen hinzu. Aufgrund der ungewohnten Schlafsituation verspannte sich der gesamte Lendenwirbelbereich. Ich vermutete, dass ich am Boden im offenen Schlafsack etwas Zugluft abbekam.

 

Mich seitlich abrollend erhob ich mich vorsichtig und ging im Schneckentempo zum Sanitärgebäude, um Zähne zu putzen und Wasser abzufüllen. So wie ich über den Platz lief, hätte niemand einen Pfifferling drauf gesetzt, dass ich an jenem Tage 80 Kilometer packen würde. Frühstück? Es ging einfach nichts rein. Ich schulterte den Rucksack und setzte mich in Bewegung. Mein lieber Schwan - ich ahnte, was mich erwarten würde. Sport frei! Die Temperaturen stiegen noch höher als am ersten Tag. Über den Tag verteilt trank ich zwischen acht und neun Liter - und das sollte nicht genügen. 

An sieben oder gar acht km/h waren am zweiten Tag nicht zu denken. Ankommen, lautete die Devise. Gedacht werden durfte stets nur an den kommenden Abschnitt. Hey komm, wieder vier Kilometer gepackt. Dort bis zur nächsten großen Straße sind es nur sieben Kilometer. Ein Supermarkt in Reichweite? Hinein! Als ich mich dann doch kurz hinsetzte, zog es fürchterlich im Lendenwirbelbereich. Austrinken und weiter! Immer weiter! Ab und an nur mal kurz im Halbstehen ausruhen, um die Füße kurz zu entlasten. An ein Ausziehen der Schuhe war nicht zu denken. Wenngleich die leidgeplagten kleinen Zehen nach Freiheit riefen. Da mussten sie jetzt durch! Kilometer arbeitete ich mich voran, trank immer wieder was und versuchte mich abzulenken. 

 

Nach 45 Kilometern kam ein echter mentaler Einbruch. Ein Blick auf die Uhr. Während ich am Morgen und Vormittag des ersten Tages so richtig Strecke machen konnte, zog sich am zweiten Tag alles hin wie der viel zitierte Kaugummi. Im linken kleinen Zeh knackte es kurz, wenig später platzte an der rechten Ferse eine große Blase. Ich zuckte zusammen. Bloß nicht dran denken! Ich drosselte das Tempo auf drei, vier km/h. Mir war aber klar, dass ich etwas mehr Tempo aufnehmen müsste, um überhaupt nachts in Berlin mein Ziel erreichen zu können. Nach 55 Kilometer kam wieder etwas Schwung ins Ganze. Das ganze Adrenalin ließ die Schmerzen erträglich werden. Ich spürte, wie sich ein Rauschzustand einstellte. Ich fühlte mich vollgepumpt mit sämtlichen körpereigenen Drogen und Hormonen. Und auch das Testosteron machte seine Arbeit. Nun wusste ich, warum Extremsportler diesen Zustand auf gut Deutsch gesagt dermaßen geil finden. Sagen wir es mal ganz salopp: Volle Dröhnung in der Birne und dicke Eier dazu.

In der Dämmerung marschierte ich Stück für Stück gen Stadtzentrum. Das Zwischenhoch hielt leider nicht allzu lange an. Der krasse Hormonüberschuss hielt zwar an, doch das Adrenalin vermochte nicht mehr die krassen Schmerzen in den Zehen zu übertönen. Benommen erreichte ich das Brandenburger Tor, wie benebelt schlich ich später gegen ein Uhr in der Nacht von der Oberbaumbrücke in Kreuzberg-Friedrichshain bis nach Treptow und Neukölln. Nur noch fünf Kilometer! Welch ein Durst! In einem Spät kaufte ich mir mein Lieblingsbier aus Stralsund. Zu Hause würde ich diese Flasche auf Ex trinken. Als ich dann wirklich die Wohnung in der 5. Etage erreicht hatte, wollte das Bier nicht rein gehen. Es ging einfach nicht. Der Körper verlangte nach Wasser und nochmals Wasser. Ich war dehydriert. Ich hatte es im Laufe des Tages nicht geschafft, den Körper mit genügend Flüssigkeit zu versorgen. 

 

Matt, aber glücklich haute ich mich gegen drei Uhr ins Bett, an Durchschlafen war jedoch nicht zu denken. Fieberträume marterten mich bis gegen sieben Uhr, dann gab es noch zwei, drei Stunden Erholungsschlaf. Erstaunlich fit konnte ich am Vormittag aufstehen, die Füße sahen indes richtig übel aus. Beim nächsten türkischen Kramgeschäft kaufte ich zwei Schlappen, um überhaupt von A nach B zu kommen. Ähnlich wie nach der krassen Wanderung durch die kanadischen Rocky Mountains schlich ich mit leicht verzerrtem Gesicht durch die Straßen, doch die Freude über den neuen persönlichen Rekord ließ alle Strapazen vergessen. Ich hatte es tatsächlich geschafft! 150 Kilometer in zwei Tagen - und das mit Gepäck und bei Rekordhitze!

Fotos: Marco Bertram

> weitere Impressionen vom 150km-Marsch auf dem Berliner Mauerweg

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