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Spurensuche in Tschernobyl: Gruselige Puppen, offen liegende Briefe, verlassene Spielplätze

 
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Das beklemmende Gefühl wird mit einem Mal noch stärker. Neben der Kaffeetasse liegt der Zettel mit den aktuellen Themen. Der FC Stroitel Prypjat für die Fußball-Rubrik, die Spurensuche in der Sperrzone um Tschernobyl für unsere Reise-Rubrik. Schwere Kost. Als dann noch der Blick auf den Kalender fällt, muss ich kurz durchatmen. Ach ja, stimmt, heute ist der 11. September. Damals vor 17 Jahren weilte ich gerade auf der kroatischen Adria-Insel Pag, als ich am Nachmittag beim Vorbeigehen an einem Restaurant auf dem an der Decke befindlichen Fernseher die surreal anmutenden Bilder aus New York sah. Es war ein schwer beschreibendes Gefühl. In jenem Moment wusste ich gar nicht, ob ich jemals nach Berlin zurückkehren könnte. Schließlich hätten die Anschläge auf das Pentagon und das World Trade Center den 3. Weltkrieg auslösen können. Ratlos starrte ich auf den Fernseher und versuchte den kroatischen Sprecher halbwegs zu verstehen.

Doch soll es heute nicht um „Nine-Eleven“ gehen. Vielmehr wird gedanklich die Uhr weiter zurückgedreht bis zum 26. April 1986. Im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat kam es in Reaktor 4 zu einer Nuklearkatastrophe. Um 1.23 Uhr in der Nacht wurde nach aufgetretenen Problemen manuell der Knopf des Havarieschutzes, Typ 5 (Notabschaltung des Reaktors), ausgelöst. Es nutzte nichts. Im Reaktorkern erhitzten sich Kühlwasser, Graphit, Steuerstäbe und Brennstäbe enorm, erste Explosionen fanden statt, die Druckröhren begannen zu bersten. Weitere Explosionen und Brände führten dazu, dass reichlich radioaktives Material in die Umwelt gelangte.

Am Abend des 26. September 1986 wurde im deutschen Fernsehen erstmals im „heute journal“ über die Katastrophe berichtet. Vorgelesen wurde eine „sensationelle“ Meldung, die von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS verbreitet wurde. Im Atomkraftwerk Tschernobyl sei es zu einem Unglück gekommen, bei dem einer der Reaktoren beschädigt wurde. Maßnahmen seien eingeleitet worden, um die Folgen des Unglücks zu beseitigen. Zudem wurde eine Regierungskommission eingesetzt. Angaben über die Opfer und Verletzten gab es bislang nicht. 

Die Ausmaße des Unglücks wurden erst an den folgenden Tagen bekannt, als es erste Luftaufnahmen zu sehen gab. „Nuklearbrand nicht unter Kontrolle“, hieß es am 29. April 1986 in der „Tagesschau“. Im Atomkraftwerk Tschernobyl war es zum befürchteten Gau gekommen, dem größten anzunehmenden Unfall. Auf einer Karte gezeigt wurde eine radioaktive Wolke, die sich sichelförmig in Richtung Nordwesten ausbreitete. Genau jene Karte hatte sich bei mir als 12-Jähriger fest eingebrannt. Ich war schockiert - und meine Eltern waren es auch. Meine Mutter bat mich, möglichst wenig draußen zu spielen und bei den Schulfreunden lieber ins Kinderzimmer zu gehen. Auf gar keinen Fall sollte ich draußen an der frischen Luft bleiben, wenn der Regen einsetzt. Genau dies tat er jedoch, als ich im Heimatort Waldesruh die Köpenicker Allee in Richtung Konsum entlanglief. Ein kurzer Frühlingsregen, und in mir gefror gefühlt das Blut. Ich bekam es mit der Angst zu tun und flüchtete rasch in den kleinen Konsum „Knappe“. 

Nun, über 32 Jahre später, erhielt ich von unserem Fotografen Fabian ein ganzes Paket Fotos aus der dortigen Sperrzone. Der Tourismus läuft langsam an, und es ist möglich, von Kiew aus geführte Touren nach Tschernobyl und Prypjat zu unternehmen. In Prypjat wohnten einst knapp 50.000 Einwohner. 36 Stunden nach dem Unglück wurden sämtliche Bewohner mit 1.200 Bussen innerhalb von zweieinhalb Stunden abtransportiert. 

Alles wurde stehen und liegen gelassen, und somit ergeben sich in der Gegenwart überaus gruselige Anblicke. Aufgeschlagene Schulbücher auf einem Tisch, handschriftliche Notizen auf einem sowjetischen Literaturbuch. Puppen und Spielzeuge, die in den Ecken liegen. Ein verlassener Schlafsaal, in dem die Doppelstockbetten vor sich hin rosten. Die Welt nach dem Menschen. Wie sie aussehen könnte, ist in Prypjat jetzt schon erkennbar. 

Berühmt ist der verlassene Freizeitpark in Prypjat, dessen Riesenrad und Autoscooter-Bahn für gespenstische Foto- und Filmmotive sorgen. Ebenso gruselig wirkt an einem nahen See ein großes Hausboot, das halb im Wasser versunken ist. Skurril anmutende Wandmalereien, monströse sowjetische Denkmäler, Wohnblocks an denen der Zahn der Zeit nagt - es gibt viel zu sehen. Was bleibt? Ein überaus flaues, beklemmendes Gefühl in der Bauchregion. 

Fotos: Fabian S. (www.inpivoveritas.de)

> zur turus-Fotostrecke: Bilder aus der Sperrzone um Tschernobyl

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Hammer Fotos!!!
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Beeindruckende Fotos!
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