Back to the roots: Unter freiem Himmel im brasilianischen Urwald pennen

Back to the roots: Unter freiem Himmel im brasilianischen Urwald pennen

 
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„Jesus Christo e o Senhor“. Wie auf den meisten brasilianischen Kirchen begrüßte uns auch an einer Kirche im Städtchen Itatiaia dieser Spruch. Rot aufgemalt auf einem schlichten, bereits arg verwittertem Brett. Ein paar Meter weiter tanzten unter bunten Lampen und Girlanden zahlreiche Einheimische zu den Klängen von Samba, Tropicalismo und Bossa Nova. Auf einer Veranda eines weiß angestrichenen Hauses aus Kolonialzeiten wurden Schnittchen und kalte Getränke gereicht. O meu Deus! Nur paar Meter entfernt bolzten ein paar schreiende Kinder auf einem schwach beleuchteten Platz. Von den vier Laternen funktionierte nur eine, und als Schatten huschten die Kinder über das holprige Terrain. Später in der Nacht schepperte es übelst laut in unserer Hospedaria an Tür und Fensterläden. Ein Überfall? Nein. Ein paar Partygänger hatten sich einfach nur bei der Zimmernummer vertan und dachten, sie müssten ihre Mitbewohner aus dem Schlaf reißen, um Eintritt gewährt zu bekommen.

Geräusche ganz anderer Art bekamen meine Reisepartnerin und ich drei Tage später im Atlantischen Regenwald der parallel zur Küste zwischen São Paulo und Rio de Janeiro verlaufenden Gebirgskette Serra da Mantiqueira zu hören. Wolkenfetzen verdunkelten phasenweise den Mond, und in den finsteren Baumkronen brüllten sich die kleinen Affen die Lunge aus dem Hals. Ich hätte im Vorfeld nicht gedacht, dass es mitten im Urwald nachts dermaßen laut sein könnte. 

Vor Einbruch der Dunkelheit hatten wir in den Bergen des in der Serra da Mantiqueira befindlichen Itatiaia Nationalparks unser Nachtlager unter freiem Himmel aufgeschlagen. Aber was heißt aufgeschlagen? Viel dabei hatten wir nicht. Schlafsack, Isomatten und eine Plane. Das war’s. Auf der Terrasse eines verlassenen Gebäudes legten wir ein paar große Bananenblätter aus und machten es uns darauf gemütlich. In der Hoffnung, dass es nachts nicht regnen würde. Bei Regen hätten wir die gespenstisch anmutende Ruine aufsuchen müssen. 

„Atenção! Chame o caseiro bate no gongo!“, stand in roten und weißen Buchstaben auf einem Schild am Haus zu lesen. Um den Besitzer zu rufen, sollte man einst die „Gongo“ schlagen. Neben dem Schild hing an einer Strippe ein Stück Rohr. Einen Besitzer gab es jedoch seit etlichen Jahren nicht mehr. Das Holzschild fristete sein Dasein und verwitterte zunehmend. Farbe blätterte von den vornehmen Gartenmöbeln auf der Veranda ab, Moos setzte sich an, und an den Wänden des Gebäudes rankelte Efeu empor. Zwei riesige Wespennester wurden auf Anhieb im Eingangsbereich des Hauses gesichtet, und da wir in der Nacht zuvor an unserem Nachtlager auch große Vogelspinnen in einer Art Schuppen, der als Klo diente, antrafen, legten wir uns lieber abseits der Ruine mit unseren Schlafsäcken auf die Freifläche. Schon bald lagen wir zu zweit in einem Schlafsack, da in dieser Höhenlage die Temperatur erstaunlich stark fiel. Zudem waren die Geräusche und Schatten allzu furchteinflößend.

Diese legendäre Nacht auf der siebenwöchigen Reise quer durch Brasilien im Sommer 1996 fiel mir ein, als ich mit meinem größeren Sohn auf YouTube die neue Staffel von „7 vs. Wild“ schaute. Ausgesetzt auf einer Insel vor Panama. Die erste Nacht. Jede Teilnehmerin / jeder Teilnehmer hatte diese auf unterschiedliche Art und Weise verbracht. In der Hängematte. Auf einem großen Stück Holz. Auf zusammengelegten Bambusrohren. Auf einem aus angeschwemmten Seilresten geknüpftes Bett. Mit einem Lächeln schaute ich die ersten Folgen und musste immer wieder daran denken, was wir damals vor 26 Jahren mit in den Atlantischen Regenwald nahmen.

Drei Jahre zuvor wurde es im Banff Nationalpark der kanadischen Rocky Mountains arg brenzlig, weil mein Reisepartner Jan und ich viel zu wenig Nahrung dabei hatten. Ein Brot, eine harte Wurst, eine Tüte Kaffee und eine kleine Flasche Rum waren schlichtweg zu wenig für die einwöchige Wanderung quer über 2.500 Meter hohe Gebirgspässe. Mein Reisetagebuch aus Brasilien gibt Auskunft darüber, was Kathrin und ich mit ins Gebirge nahmen. In einem Geschäft in Itatatiaia sorgten wir für den Umsatz des Tages, als wir Fischdosen, Tütensuppen, Kekspackungen, Kokosflockenpulver, Dörrfleisch, etwas Obst und Kaffee ins Körbchen legten. 

Was die Kleidung betraf, so konnte man damals - wie bereits auf meinen großen Touren 1991, 1993 und 1994 quer durch Europa und Nordamerika - von einer gemütlichen, praktischen Outdoor-Kleidung wirklich nur träumen. Zum einen war jene damals in den 90ern noch schweineteuer, zum anderen liebte man es, eher spartanisch und mit „normaler“ Kleidung durch Brasilien zu reisen. Eine lange grüne Jeans, eine rote abgeschnittene Jeans, eine Weste mit einigen Taschen, paar T-Shirts und ein Regencape bildeten die Basis. Immerhin hatte ich für reichlich Schmatte ein paar vernünftige Wanderstiefel gekauft, die ich im Vorfeld auch eingelaufen hatte. In den Bergen Kanadas wurde mehr als klar, dass man an einigem sparen könnte, aber nicht an gutem Schuhwerk und nötigem Notproviant, das einen im Härtefall das Leben retten könnte. Mein Erschöpfungsgrad war im Sommer 1993 in den Bergen des Banff Nationalparks am sechsten Tag dermaßen hoch, dass ein einfaches Umknicken gereicht hätte, dass ich fernab der Zivilisation nicht mehr aufgestanden wäre. Bereits ohne Sturz lag ich am frühen Abend bei einsetzendem Nieselregen kurzzeitig wie ein Käfer auf dem Rücken. Konnte und wollte nicht mehr. Eine gefährliche Egal-Stimmung und eine Art Dämmerzustand hatten bereits eingesetzt. 

Wie gesagt, daraus hatte ich auf der Reise durch Brasilien gelernt. Was die Ernährung betrifft, hatten wir meist alles richtig gemacht. Zumindest blieb mir nicht in Erinnerung, dass ich einmal extremen Durst und Hunger hatte. Das Nächtigen in der Wildnis hatte sich umso mehr eingeprägt. Während sich Kathrin eine landesübliche lange Hängematte besorgt hatte, lag in meinem Rucksack eine in Deutschland gekaufte Hängematte, die sich vor Ort als komplett unbrauchbar herausstellte. Hätte man theoretisch zwei passende Bäume gefunden, so lag man schlichtweg zu sehr gekrümmt in dieser Hängematte. An ein Schlafen in embryonaler Stellung war nicht zu denken. Später auf dem Amazonas stellte sich auf den weißen, geschwungenen Schiffen heraus, dass meine Hängematte an Deck nicht einmal von Haken zu Haken reichte. Somit blieb sie im Rucksack, und ich pennte als Einziger auf dem Fußboden. Manchmal sogar am Bug des Schiffes. Besucht wurde ich manchmal von fetten schwarzen, am Boden herumkrabbelnden Käfern. Dabei blieb es jedoch auch.

Etwaiges Krabbelgetier bereitete uns im Atlantischen Regenwald des Itatiaia Nationalparks weitaus mehr Sorgen. Bereits in den zwei Nächten vor unserer Gruselnacht auf dem verlassenen Grundstück eines Kaffeebauerns hatten wir auf dem Waldboden gelegen, was bei den Einheimischen für ein Kopfschütteln sorgte. Bereits beim Fußmarsch von Itatiaia hinein in die Berge wurden wir von einem Brasileiro aufgegabelt, der uns in seinem Geländewagen mitnehmen wollte. Während ich aufgrund des ersten Überfalls in Rio de Janeiro skeptisch war und nicht mitfahren wollte, überredete mich meine Reisebegleiterin, sodass wir Platz nahmen und mit zu seinem einsamen Grundstück fuhren. Als es auf einem schmalen Pfad immer tiefer in den Wald ging, sah ich bereits unser letztes Stündlein schlagen, doch zeigte sich der Brasileiro als äußerst sympathischer Gastgeber.

Wir hätten durchaus in seinem Holzhäuschen nächtigen können, doch lehnten wir beide dies klar und deutlich ab. Das Schlafen unter freiem Himmel lockte einfach zu sehr. Brasilien. Abenteuer. Regenwald. Darauf hatten wir uns schließlich gefreut. Tudo bem! Jedoch müsse eine gespannte Plane sein, erklärte man uns und half beim Aufbau des Nachtlagers. Zudem wurde eine kleine Feuerstelle eingerichtet. In Sachen Notdurft sollte die bereits erwähnte steinerne Baracke aufgesucht werden. In dieser verharrten an der Decke große Vogelspinnen, die sich jedoch keinen Millimeter bewegten und einen nicht bei der Verrichtung der Notdurft störten. 

Bei der Übernachtung auf der Terrasse des verlassenen Grundstücks fernab jeglicher Zivilisation konnte jedoch die Plane nicht gespannt werden. Unter den Bäumen wollten wir aufgrund der Tiere - der Wald erschien dort bereits weitaus urwüchsiger als beim vorherigen Nachtlager - nicht schlafen, und auf der freien Fläche fand sich schlichtweg keine Möglichkeit etwas zu spannen. Unter dem Strich wurde es vermutlich die spannendste Nacht meines Lebens - und skurrile Übernachtungen gab es auf all meinen Reisen en masse. Affen, Vögel und womöglich auch kleinere Raubkatzen machten ein irres Getöse in den Baumwipfeln, und die am Mond vorbeiziehenden Wolken machten das Ambiente perfekt. 

Wie es damals weiter ging? Wir stießen in den kommenden Tagen weiter vor, mussten jedoch kehrt machen, da wir in ein militärisches Sperrgebiet gelangten. In der Zeit vor dem allgemein verfügbaren Internet und den Smartphones war es im Vorfeld schier unmöglich konkrete Informationen einzuholen. Jeder Reiseabschnitt wurde zu einem Überraschungspaket. In Goiânia verbrachten wir später zehn Tage bei einer Farmer-Familie, auf der Fahrt von Goiânia nach Belém wurde unser Linienbus kurzerhand in eine Nebenstraße entführt und ausgeraubt, auf den Amazonas-Schiffen zeigten sich auf der Fahrt nach Santarém, Manaus und Anori all die wunderschönen Facetten des Landes.

Wir waren sprachlos und schier überwältigt, als am ersten Tag der Fahrt am Ufer die Wälder vorbeizogen und Einheimische mit kleinen Einbäumen winkend vorbei paddelten. Mir standen vor Rührung die Tränen in den Augen. An Deck spielte ich mit den Brasilianern Karten (Truco) und trank mit ihnen eiskaltes Cerveja. Tudo bem? Tudo bem! In kindlicher Manier schaufelten vor allem die männlichen Fahrgäste an Deck zum Frühstück die Kekse mit Butter sowie mittags und abends die schwarzen Bohnen (Fejoada) und den Reis in sich hinein. 

Nachts legte ich mich auf den Boden und sah in der Ferne die Blitze zucken. An den dunklen Uferstreifen zogen einzelne Lichter der auf Pfählen errichteten Holzhütten an uns vorüber. Saudade! Gibt es für mich nach den Reisen DEN Sehnsuchtsort auf dieser Erde? Neben der irischen Westküste, der Region Jelenia Góra / Cieplice im Vorland des polnischen Riesengebirges, der Insel Rügen und dem Baikalsee ist Brasilien schlichtweg das Ziel der Träume. Im Frühjahr 2008 kehrte ich noch einmal für ein paar Wochen zurück, im Sommer 2016 sorgte ein Buchungsfehler dafür, dass es nicht von München aus mit dem Flieger zu den Olympischen Spielen nach Rio ging. Qué pena!

Die aktuellen Zeiten sind aufwühlend und teils immens anstrengend. All die Diskussionen um Krieg, Energiewandel, Corona, Gendern in der Sprache, diverse Geschlechter und etwaige Binden gehen an die Substanz - und Geist und Körper schreien nach Ruhe und Rückzug. Back to the roots! Mehr Zeit für die Familie. Mehr Zeit in der Natur. Mehr Bewegung und Sport. Mehr Schreiben und Bücher lesen. Die Zeit fühlt sich reif an, nach Brasilen zurückzukehren. Nach Amazonien. Mit der aus Knochen gefertigten Krokodilkette auf der Brust möchte ich wieder an Deck eines Schiffes sitzen und mit den Einheimischen Karten spielen. Ohne Smartphone im Gepäck. Ohne täglichen Blick in die sozialen Netzwerke. Einfach Mensch sein. Die Natur spüren, lieben und bestaunen. Ob ich jedoch noch einmal unter freiem Himmel auf dem Boden eines Regenwaldes nächtigen möchte? Nein, eher nicht. Ich würde mir wohl wie bei 7 vs. Wild einen Shelter bauen. Fritz, Survival Mattin und all die anderen haben ja nicht nur in diesem Format ausführlich gezeigt, wie das funktionieren kann… *Zwinkersmiley*

Anmerkung: Eines Tages wird es auch ein fertiges Buch zu den Brasilien-Reisen geben. 1996 - 2008 - und …

> Infos zum Autor, seinen Reisen und seinen Projekten

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus Brasilien

Fotos: Kathrin, Marco Bertram, Kallemann

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Wird ma wieder Zeit.
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Hallo Sambamarco,
stark zu lesen. Wie immer.
VG Oli
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Macht Spaß zu lesen!
J
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