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Unsichtbare Verbindungen: Wenn eine Reise noch nicht beendet ist…

 
5.0 (7)

Es ist bereits eine ganze Weile her, als ich von einer kleinen Amazonasinsel geträumt hatte. Der Traum war sehr konkret. Es ging um den Regenwald, um traditionelle Gebräuche der dortigen Ureinwohner. Um Schutz und getragene Ketten. Amapá! Dieser Name schoss mir durch den Kopf. Nach dem Erwachen schaute ich sogleich auf die Karte von Brasilien. Amapá? Das ist doch der Bundesstaat im Nordosten des Landes? Richtig, und an der Amazonasmündung gibt es auch ein paar Inseln, die statt zum Bundesstaat Pará zum Bundesstaat Amapá gehören. Gerädert stand ich damals auf und grübelte stundenlang über den hoch intensiven Traum. Es war, als hätte ich tatsächlich in irgendeiner Form eine Reise auf die besagte Insel unternommen. 

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Es war nicht das erste Mal, dass es in Träumen um Brasilien, Schlangen, Krokodile und um sehr viel Sehnsucht ging. Seit nun mehr 25 Jahren trage ich eine in Berlin-Schöneberg erworbene Krokodil-Kette. Sie „fiel“ mir geradewegs in die Hände. Das ist sie, dachte ich nur. Die Verkäuferin war ein wenig überrascht, wie schnell ich zwischen all den geschliffenen Steinen, Schnitzereien und Edelmetallen fündig wurde. Die aus Wasserbüffelknochen angefertigte Kette sollte es sein. Für immer und ewig. Meine Begleiterin auf dem weiteren Lebensweg.

Zwei Jahre später ging es im Sommer 1996 gemeinsam mit einer Frau für sieben Wochen nach Brasilien. Ich ließ meine Krokodil-Kette in meiner Wohnung in der Bornholmer Straße zurück. Ich hatte einfach Angst, dass sie abhanden gehen könnte. Ob Vorahnung oder Fehler - das ist schwer zu sagen. Gleich am ersten Abend wurden wir in Rio de Janeiro Opfer eines bewaffneten Überfalls, fünf Wochen später wurde unser Linienbus auf der Fahrt von Imperatriz nach Belém entführt und ausgeraubt. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine dermaßen große Angst gespürt, wie auf der vorderen Sitzreihe des Busses. Ich erstarrte im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Eissäule. Hätte ich nicht die Hand meiner Reisebegleiterin gespürt, wäre ich vermutlich kollabiert. Dass hinter uns die anderen brasilianischen Insassen weinten und wimmerten, machte das Ganze noch schlimmer.

Nach Dunkelheit kommt wieder Licht. Wie so oft im Leben. Als wir das erste Mal von Belém aus eine Tagestour mit einem Schiff einen Nebenarm des Amazonas entlang unternahmen, rollten die Tränen. Ich war zutiefst berührt von der Natur, die sich uns am Ufer bot. Ein unfassbares Glücksgefühl machte sich breit. Weinen vor Glück und Rührung. In dieser Intensität hatte ich das nicht zuvor und auch nicht danach noch einmal erlebt. 

Die folgenden Tage auf dem Amazonas wurden mit das Großartigste, was ich auf all den Reisen unternommen hatte. In etwa war diese Tour mit den Schiffen von Belém nach Santarém und weiter nach Manaus und Anori ein stückweit vergleichbar mit der Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn im fernen Osten Sibiriens, doch war die Fahrt den Amazonas hinauf weitaus spiritueller. Störfaktoren gab es keine mehr. Stundenlang wurde an der Reling aufs Wasser und den Uferstreifen geschaut, abends wurde der Sternenhimmel bewundert, immer wieder kamen wir mit den Brasilianern ins Gespräch, spielten Karten und ließen uns von den Kindern die Sprache beibringen. 

Vergangene Nacht gab es wieder einen mystischen Traum. Die Zahl 25 tauchte auf. Bereits 25 Jahre lang trage ich meine Krokodil-Kette. Aus dem geschnitzten Anhänger wurde ein Ring. Vielleicht sollen sich Kreise schließen. Vielleicht möchte die Kette endlich mit nach Amazonien. Womöglich soll es eine Rückkehr geben. All die Jahre bin ich hin und hergerissen zwischen Osteuropa / Balkan und Brasilien. Wehmut, Schwere, Leichtigkeit, Sehnsucht, Ferne … Saudade! Ich höre das aktuelle Lied Corpo a Corpo“ der Band Canto Cego und höre auf meine innere Stimme. Noch ist nicht ganz klar, wohin genau die Reise gehen soll, aber ich bin mir sicher, die Zeichen werden in naher Zukunft deutlicher werden…

Folgend noch ein paar Zeilen, die unmittelbar nach der Reise im Sommer 1996 verfasst wurden:

Dreißig Orangen als Geschenk - eine Fahrt nach Anori

Die Mündung des Rio Negro lag bereits einige Stunden hinter uns. Unser Schiff pflügte sich durch das Wasser des Solimões in Richtung Westen, wo die Wildnis erst richtig begann. Hinter dem Rio Negro waren die Ufer des Amazonas zu großen Teilen unberührt. Nur noch kleinere Schiffe suchten den Weg zwischen den vielen Inseln entlang. Sämtliche Ortschaften und Dörfer waren nur auf dem Wasserweg erreichbar. 

Godajás, Coari, Tefé, Fonte Boa und Tabatinga. Maraã, Tonantins, Santa Rita. Nur zwischen den Kleinstädten Benjamin Constant und Atalaia do Norte, gelegen am Dreiländereck von Brasilien, Peru und Kolumbien, führte eine Straße, die Sandpiste 32, durch den dichten Regenwald. Gegenüber in Tabatinga existierte sogar ein Flughafen.

Ansonsten gab es im westlichen Amazonien nur den Weg über das Wasser. Davon gab es jedoch reichlich. Tausende Flüsse im Umkreis von hunderten Kilometern führten das Wasser zum Hauptstrom des Amazonas. Nur die größten waren auf den Landkarten registriert und besaßen einen Namen. Rio Coari, Rio Xiruá, Rio Mutum, Rio Preto, Rio Marauia, Rio Cauaburi, Riozinho.

Es war kaum zu glauben, wie viele Flüsse ihre Bahnen durch den undurchdringlichen Urwald zogen, und es gehörte eine gute Navigation dazu, ein Boot sicher durch das Netz von Wasserläufen, Süßwasserlagunen, Seen, überschwemmten Landstrichen, festen und schwimmenden Inseln zu führen.

Unser Ziel war das Urwalddorf Anori, das etwa 250 Kilometer flussaufwärts an einer kleinen Ausbuchtung des Solimões lag. Niemals hätte ich von diesem Ort gehört oder wäre gar mit einem Schiff dorthin gefahren, wenn es nicht der Zufall gewollt hätte, dass wir am Hafen von Manaus mit einer Frau ins Gespräch kamen, die uns einlud, mit ihrem Schiff nach Anori zu fahren, dort einen Tag zu bleiben und am Morgen darauf wieder nach Manaus zurückzukehren.

Das Schiff war ein Stück kleiner als die beiden zuvor und hatte nur wenige Leute an Bord. Dieses Mal konnten Kathrin und ich uns aussuchen, wo wir die Nächte verbringen. Auch wenn man nicht das gesamte Deck für sich allein hatte, so war es doch kein Vergleich zum Gedränge während der Fahrt nach Santarém und Manaus.

Uns blieb noch eine Woche Zeit, und wir waren über diese nicht eingeplante Abwechslung sehr erfreut, zumal wir von diesem Reiseziel nie zuvor in unserem Leben etwas gehört oder gelesen hatten. Anori war in keinem Buch zu finden. 

Das Abendbrot wurde an Bord mit einer Messingglocke angekündigt. Eine alte Frau mit schmutzigem Kittel stellte am Heck des Schiffes das Essen auf den Tisch, und die Männer und Frauen ließen nicht lange auf sich warten. Doch eines Abends fanden Kathrin und ich uns allein am gedeckten Tisch wieder. Nach dem Läuten der Glocke ließen wir uns Zeit, um den anderen den Vortritt zu lassen, doch die Holzbänke blieben leer und die Schüsseln und Teller unangetastet. Ab und zu wurden aus einiger Entfernung verstohlene Blicke auf den Tisch geworfen. Kein einziger Brasilianer setzte sich zu uns. 

Der Grund wurde beim näheren Betrachten der Schüsseln schnell ersichtlich. Mittags noch gab es knuspriges Hühnchen mit Reis und Bohnen, da leckte sich ein jeder die Finger. Jetzt zum Abend stellte die alte Küchenfrau auf den Tisch, was vom Geflügeltier noch übrig blieb. Ich spreche nicht von aufbereiteten Eingeweiden oder Bürzeln. Nein, die Blechschüssel war gefüllt mit gekochten Hühnerbeinen. Durch heißes Wasser aufgedunsene Hühnerfüße. Abgebrochene Beinknochen und Krallen ragten über den Schüsselrand hinaus. 

 

Es galt, sich reichlich zu bedienen und die dürftigen Fleisch- und Hautfetzen abzunagen. Mit verschränkten Armen stand die Küchenfrau an der Reling, starrte auf das von ihr zubereitete Abendmahl und wartete vergeblich auf die Passagiere. Nach einer Stunde deckte sie wieder mit schüttelndem Kopf ab und warf die von allen verschmähten Hühnerfüße den Piranhas zum Fraß vor.

Am kommenden Morgen verließ das Schiff den Lauf des Solimões, fuhr über spiegelglattes Wasser an kleinen Inseln vorbei und näherte sich den Vorboten Anoris. Auf Holzpfählen errichtete Hütten kündigten die Ortschaft an. Der dahinter liegende Wald überthronte die Häuserreihen. Wie eine dunkle Wand hob er sich von den gelben, hellgrünen und weißen Häusern ab. In Ufernähe zogen Männer mit zwei Kanus ein langes Treibnetz ein. Vorsichtig gingen sie zu Werke, denn die Kanus waren schmal. Ständig mussten sie mit ihrem Körpergewicht die Balance halten, um nicht in das braune Wasser zu stürzen.

Bei der Anfahrt machte Anori einen sehr ruhigen, abgelegenen Eindruck. Doch am Hafen änderte sich das Bild. Am Hafen war ständig etwas los, dort trafen sich die Bewohner der Ortschaft. Da es nur das Wasser als Transportweg gab, kamen immer wieder Kanus und Motorboote von den umliegenden Siedlungen und Hütten an. 

Alles, was man mit dem Element Wasser anstellen kann, war am Hafen Anoris zu bestaunen. Jugendliche wuschen ihre Fahrräder und Mofas im Hafenwasser. Sie fuhren dabei ganz einfach mit halsbrecherischem Tempo die betonierte Straße, die bis ins Wasser führte, hinunter. Jauchzend rasten sie immer wieder die Schräge hinunter, bis links und rechts das Wasser nur so aufspritzte und sie bis zum Hals im feuchten Element standen. 

Männer zogen Eimer an festgeknoteten Seilen an den Bordwänden der Schiffe hinauf und gossen anschließend die braune Brühe über die hölzernen Decksplanken. Zu den heißen Mittagsstunden kühlten sich Kinder wie Erwachsene im Hafenwasser ab. Ein leichter Ölfilm trieb am Heck des einen Schiffes, und ein Stück weiter wurden Obst- und Gemüseabfälle der Einfachheit halber in den Fluss geworfen.

Daran störte sich niemand. Im Gegenteil, eine Frau mit hellen Haaren, ich erfuhr, dass sie aus Holland stammte, schöpfte Wasser in eine Schüssel und spülte Geschirr. Anschließend reinigte sie Wäsche. Stämmig wie ein Mann knetete sie die T-Shirts und Hosen der Angehörigen durch. Ihre Tochter mit ebenso hellblonden Haaren und Sommersprossen im Gesicht saß auf einem Geländer und ließ die Beine baumeln. Die Holländerin hatte sich vor Jahren auf den Weg gemacht, Europa hinter sich gelassen und ein neues Zuhause in den Weiten Amazoniens gesucht. 

Sie wählte nicht Santarém oder Manaus, von wo aus man jederzeit mit einem Flieger zurück zum alten Kontinent heimkehren könnte. Nein, sie zog das abgelegene Anori vor. Dort, wo alle zwei Tage ein Linienschiff hielt. Dort, wo das Leben alles andere als ein Kinderspiel war. Direkt am Hafen hatte sie ihre Hütte. Das Holz war grau und nicht mehr das frischeste. Von irgendeiner Form europäischen Luxus war keine Spur.

Sie kniete sich auf den Steg und schöpfte eine neue Schüssel voll Wasser. Es war schlechtes Wasser, denn abseits des Hauptstromes gab es keine Strömung. Das Wasser stand in der großen Flusslagune und konnte nicht abfließen. Unser Schiff hatte am Steg festgemacht. Der Landgang konnte beginnen. Die Sachen durften wir auf dem Deck lassen. Auch die kommende Nacht könnten wir dort verbringen, teilte man uns mit, wir bräuchten uns somit in Anori keine Bleibe suchen.

Ein junger Brasilianer bot mir sein Fahrrad an, damit ich eine Runde im Ort und in der Umgebung drehen könne. Eine kleine Tour in den Urwald lohne sehr, erzählte er mir freudig und richtete den Daumen gen Himmel. Gesagt, getan. Es tat gut, sich mal wieder anderweitig zu bewegen. Der warme Wind blies mir durch die Haare, die Geschwindigkeit kam mir ungeheuer hoch vor, und es war überraschenderweise nicht sehr anstrengend, mit dem Rad bei der im Zenit stehenden Sonne kilometerweit in der Gegend umherzufahren.

Die Passanten amüsierten sich, als ich die holprigen Straßen langbrauste, denn einen Sattel gab es an dem Fahrrad nicht mehr, und so saß ich kurzerhand auf dem Gepäckträger oder fuhr stehend. Dabei gab das Fahrrad ein gehöriges Klappern von sich, so dass jeder im Ort auf mich aufmerksam werden musste. 

Es war egal, Rad war Rad. In aller Kürze in Anori heimisch geworden, kurvte ich Straße für Straße ab, prüfte jedes Geschäft und bestaunte am Ortsrand die schmalen Pfade, welche geheimnisvoll in den Urwald führten. Die Neugierde packte mich. Ich fuhr zum Schiff zurück, um Kathrin zu einer Waldwanderung zu überreden. Nachdem das Fahrrad seinem Besitzer mit einer höflichen Geste zurückgegeben wurde, eilte ich an Deck und rief:

»He, Kathrin, hast du Lust, einen Spaziergang in den Wald zu machen?«

»Wieso, hast du einen guten Weg ausgekundschaftet?« fragte sie mich und legte ein Buch in der Hängematte beiseite.

»Ja, der eine Pfad sah ziemlich breit aus, dem könnte man ein paar Kilometer weit folgen. Der Ort ist eh ganz nett anzuschauen«, gab ich als Antwort.

Anori hatte größere Ausmaße als vom Wasser aus angenommen. Sogar eine steinerne Kirche und eine Parkanlage mit Bäumchen, Sträuchern und Blumen gab es. Gemüse, Früchte, Backwaren und Getränke waren in den vielen kleinen Geschäften reichlich erhältlich. Das Angebot überraschte mich. Die dortige Drogerie war sogar besser ausgerüstet als eine vergleichbare in unseren heimischen Dörfern.

So konnte ich es nicht lassen, ein nach Kräutern riechendes Sportshampoo, hergestellt in São Paulo, für drei Reais zu ersteigern, das unser Globetrotter Outdoorprodukt in der kommenden Zeit ablösen sollte. Eine Straße, die direkt vom Hafen quer durch Anori führte, ging am Waldrand unmittelbar in einen Trampelpfad über. Die Baumkronen bildeten über dem Pfad ein für die Sonne undurchdringliches Dach. Ich betrachtete entzückt die vielen Pflanzen und wollte soeben ein interessant aussehendes Blatt abreißen, als mir folgende Worte einfielen: Berühre niemals unachtsam dir nicht bekannte Pflanzenteile im Tropischen Regenwald. Die Säfte der Blätter und Früchte könnten Ätzungen und Hautreizungen hervorrufen!

Nun ja, man kennt es ja. Verträumt läuft man durch die Natur, die Gedanken schweben einfach dahin, und schon gleiten die Finger durch die Gräser und Blätter am Wegesrand. In den Tropen können solche Spielereien unangenehme Folgen haben. Auf den Pflanzen sitzende Insekten können dem achtsamen Wanderer unangenehme Überraschungen bereiten. Insekten gibt es in Amazonien reichlich. Bereits in Santarém wurden wir auf Blattschneideameisen, genannt saubas, die auf den Wegen und Straßen der Stadt ihre Arbeit verrichteten, aufmerksam. Mit kräftigen Zangen zerlegten sie handgroße Blätter in Minutenschnelle und trugen sie auf dem Rücken davon. Meist waren die zu transportierenden Stücke größer als die Ameisen selbst. 

In der nächsten Bordsteinritze wurden die Blatteile mühsam hineingezwängt, und somit verschwanden die grünen, auf den Boden gefallenen Laubblätter im Handumdrehen. Ein faszinierendes Schauspiel. Die Artverwandten der Ameisen, die Termiten, bekamen wir auf unserem Urwaldspaziergang bei Anori zu sehen. Nach etwa fünf Kilometern lichtete sich der Wald, und eine große Freifläche kam zum Vorschein. Aus dem Regenwald wurde ein großes Quadrat abgeholzt. Vereinzelt standen verkümmerte Bäume auf der holprigen, kargen Wiese und spendeten den friedlich grasenden Rindern so gut wie keinen Schatten. Die Wiese war übersät mit Termitenhügeln. Helle Lehmklötzer in allen Größen und Formen. Kein Termitenbau glich dem anderen. Mitten auf der Freifläche stand ein Holzhaus, und ich fragte mich, wie lange dieses dem Ansturm der kleinen Insekten standhalten würde. 

Die Wiese gab nicht viel her, das Gras war gelb und ausgetrocknet, doch das auf Pfählen gebaute Holzhaus zeigte, dass es auch feuchtere Zeiten gibt. Dann würden die braunen und weißgrauen Rinder wie die Wasserbüffel an den Ufern des Amazonas bis zu den Knien im Morast stecken. Das braune Schneidegras würde dann in grüner Farbe zum Himmel sprießen, vom Waldrand aus Stück für Stück die Wiese überwuchern und den Rindern den Raum zum Grasen streitig machen. Hinter dem abgeholzten Quadrat führte der Pfad wieder in den Urwald. Kathrin und ich folgten ihm, bis er an einem morastigen Teich endete.

Zwei Männer hatten am gegenüberliegendem Ufer etwas an einem Boot zu schaffen. Der Pfad ging auf der anderen Seite des Sumpfes weiter, und das Boot war zum Übersetzen gedacht. Da jeder das Boot benutzen konnte, war es in keinem guten Zustand, denn niemand fühlte sich für dieses verantwortlich. Da musste vor einer Überfahrt schon mal ein Loch im fauligen Holz provisorisch gestopft und das brackige Wasser geschöpft werden.

Auf dem Rückweg bot sich kurz vor Anori ein kurioses Bild. Hausschweine und Hühner mitten im Urwald. Sich durch nichts stören lassend, tummelten sie sich unter einem großen Baum und suchten jeder auf seine Weise nach Futter. Zwar erschien mir dieser Anblick nicht so abstrakt wie die Waschmaschine bei Elias vor dem Schweizer Häuschen im Itatiaia-Nationalpark, aber immerhin, das gebotene Bild war köstlich.

Den Nachmittag wollten Kathrin und ich dazu nutzen, auf dem Schiff in der Hängematte zu liegen und das Hafengeschehen einmal in aller Ruhe zu beobachten. Bereits am Morgen wurden wir auf ein Lied aufmerksam, das über an Strommasten und Häuserwänden angebrachte Lautsprecher abgespielt wurde. 

Es musste der allerneueste Hit der Amazonasmusik gewesen sein, denn am Nachmittag wurde dieses Lied zum hundertsten Mal hintereinander abgedudelt. Zwischendurch ein Kommentar, ein fröhlicher Aufruf, und dann wieder diese Melodie. Eine später gekaufte Kassette gab Aufschluss, es war das Lied »A Contagem« von Joel Gama.

Die im Sommer 1996 in Amazonien immer wieder gehörten Lieder der Boi-Bumba Garantido todas 96 waren der reinste Ohrwurm. Sie gefielen mir noch weitaus mehr als die brasilianischen Sommerhits der Gera Samba aus der Region Rio des Janeiros, die man in der Hospedaria Morgen für Morgen zu hören bekam. Oooo meee-u deee-us ...

Wer denkt, in einem abgelegenen Urwaldort wie Anori sagen sich Urwaldfuchs und Regenwaldhase gute Nacht, wird schnell eines Besseren belehrt. Allein an diesem einen Tag gab es zwei stimmungsvolle Höhepunkte. Das Schiff, auf dem vormittags noch das Wasser über die Planken gekippt wurde, wandelte sich am Nachmittag zum Schauplatz einer schwimmenden Wahlveranstaltung, einer Party, zu welcher der Bürgermeister von Anori viele Leute eingeladen hatte. Männer und Frauen strömten auf des Schiff, wedelten mit bunten Fähnchen und schossen Böller in die Luft.

Da waren sie wieder. Es waren dieselben Knallkörper wie auf dem Festival in Santarém. Laut wie Mörsergranaten explodierten sie am hellblauen Himmel. Immer wieder wurden Stahlrohre nach oben gehalten und Böller abgefeuert. Die Meute jubelte, sang und feierte ausgelassen auf Ober- und Unterdeck. Langsam verschwand das Schiff hinter der nächsten Biegung, und die Laute verstummten zunehmend. 

Am frühen Abend kehrte das Partyschiff wieder zurück. Schon eine halbe Stunde vorher kündigten der dumpfe Hall der Böller die Rückkehr an. Die Ankunft übertraf die Abfahrt bei weitem. Am Ufer standen Einwohner Anoris und begrüßten das Schiff, als käme es nach zwei Jahren von einer Weltumfahrung wieder.

Und immer wieder diese Böllerschüsse. Sie mussten reichlich Munition an Bord gebunkert haben. Ein vielleicht achtzehnjähriger Brasilianer teilte uns mit, dass später in der Innenstadt die festa erst richtig losgehe, und wir recht herzlich eingeladen seien...

Fotos: Marco Bertram, Kathrin B.

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus Brasilien

 

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