hohenwutzen

Auferstanden aus Ruinen: Zeitreise zum Polenmarkt bei Hohenwutzen / Cedynia

 
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Und plötzlich ist alles wie vor 35 Jahren. Mein Papa sitzt am Steuer, von Waldesruh aus geht es die Landstraße nach Hoppegarten und dann weiter über Strausberg in Richtung Prötzel. Ich sitze hinten rechts und schaue aus dem Fenster, während die Brandenburgischen Landschaften vorbeiziehen. Eggersdorf wird gestreift, wo ich von 1982 bis 1984 dreimal im ORWO-Betriebsferienlager Helmut Just wunderbare Wochen erleben durfte. Zu jenen Zeiten ging es an den Wochenenden mit den Eltern häufig ins Berliner Umland. Während es in den 1970ern noch mit Rad und Nahverkehrszug zum Beispiel in die Märkische Schweiz ging, konnte ab Sommer 1980 im weißen Skoda mit dem „ERE-Kennzeichen“ zu den gewünschten Ortschaften gedüst werden. Der Geruch der Sitzgarnituren und des warmen Motors (er befand sich hinten) hatten sich fest eingeprägt. Genauso wie der Name der Ortschaft Prötzel, die sich zwischen Strausberg und Wriezen befindet. Alles östlich und nördlich von Strausberg lag aus damaliger Sicht gefühlt eine Ewigkeit weit weg. 

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Am heutigen Tag ist der Polenmarkt bei Hohenwutzen das Ziel der Reise. Mein Papa möchte dort Blumen für den Garten kaufen, einmal voll tanken und nicht zuletzt eine Runde bummeln gehen und anschließend am Ufer der Oder ein wenig sitzen und quatschen. Ob ich dort schon einmal war? Neee, wirklich noch nie. Klar, in den 1990ern tingelte ich öfters mal mit einem Freund aus Frankfurt/Oder rüber zum Polenmarkt in Słubice, doch im Neuen Jahrtausend mied ich generell solche Schauplätze. Auch bei Touren nach Kostrzyn nad Odrą lief ich stets schnurstracks am dortigen Markt vorbei. Zigaretten, Tanken, Gartenzwerge - brauche ich alles nicht.

Beim Gelände bei Hohenwutzen wurde ich jedoch hellhörig. Mein turus-Kollege Michael hatte vor geraumer Zeit mal über das einstige Industriegelände und den Fußball in der nahen Ortschaft Cedynia einen ausführlichen Bericht verfasst. Ey komm, dachte ich mir, mit Papa kannste mal wirklich solch eine Tour machen, zumal er in höchsten Tönen vom dortigen Frühstück schwärmte. Brot, Spiegeleier und Wurst seien lecker, und die Portion sei so groß, dass man gar nicht alles auffuttern könne. Nun denn, wollen wir doch mal sehen! 

Kurz vor der Brücke über die Oder fährt doch tatsächlich vor uns ein alter Wartburg, und als wir das Gelände erreichen, scheint die Zeit wirklich stehengeblieben zu sein. Es ist ersichtlich, dass in den letzten Jahren reichlich Hand angelegt und einiges ausgebaut wurde, doch unter dem Strich versprüht alles einen unübersehbaren osteuropäischen Charme der 80er und 90er. Im Schnitt zwei Monate pro Jahre verbrachte im zurückliegenden Jahrzehnt familiär bedingt in Polen. Es erinnert in der Regel nicht mehr allzu viel an die frühen 90er, in denen Touren ins Nachbarland mitunter ein echter Gaudi wurde. Schräge Typen mit Schnurrbärten und seidenen Jogginganzügen. Schnorrer, halbkriminelle Geldtauscher, Permanent-Anquatscher, aufdringliche Zigarettenverkäufer, zwielichtige Zugschaffner, Taschendiebe in den Nachtzügen, skurrile Verkaufsstände und Märkte - bei unseren Reisen quer durch Polen kamen mein Kumpel Jan und ich fast nie aus dem Staunen und Abfeiern raus.

Auf dem Polenmarkt bei Hohenwutzen haben ein paar Unikate aus den 90ern überlebt - und mit ihnen die Art und Weise, wie potentielle Käufer angesprochen werden. Zigaretten? Was ist für Sie von Interesse? Allerdings muss betont werden, dass bei weitem nicht so aufdringlich vorgegangen wird wie vor 25 Jahren. Unangenehme Seiten hat ein Bummel an den Ständen des Marktes keinesfalls. Sicher ist das Areal sowieso. Kein Vergleich zu den wilden Zeiten direkt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als halb Osteuropa sein Unwesen auf den Straßen und Märkten Polens zu treiben schien. In der Gegenwart ist alles stramm organisiert und kameraüberwacht. Aus dem Koffer verkaufende Gestalten gibt es nicht mehr. Auf solch ein Treiben hat man auf dem Polenmarkt Hohenwutzen wahrlich keine Lust. Es ist schwer genug, Woche für Woche genügend Kundschaft aus Deutschland anzulocken. So wird sogar ein moderner Shuttle-Bus angeboten, der mehrfach am Tag von Berlin (Allee der Kosmonauten / Ahrensfelde) zum großen Polenmarkt fährt.

Wer alte Industrieruinen mag, der ist dort sowieso richtig. Von 1936 bis 1938 wurde eine große Zellstoff- und Papierfabrik errichtet, nach dem Zweiten Weltkrieg lag das Gelände bis Anfang der 1990er brach. Aufgrund der extrem massiven Bauweise hielten die Gebäude der Schlacht am Ende des Krieges sowie Wind und Wetter während all der Jahre danach problemlos stand. Einige große Gebäude stehen quasi als Gerippe auf dem Areal, andere wurden zu Markthallen ausgebaut. Am 4. November 2012 kam es auf dem Polenmarkt zu einem großen Brand, bei dem die meisten angebauten Stände komplett zerstört wurden. Im Frühjahr 2013 wurde der Markt allerdings wieder geöffnet. In Polen wird schon mal richtig angepackt.

Und wo angepackt wird, muss auch Geld wieder reinkommen. Logisch. Die Preise haben angezogen. Im Vergleich zum Landesinneren sind einige Artikel relativ teuer, aber selbstverständlich noch immer unter deutschem Niveau. Wer lecker essen möchte, ist dort noch immer richtig. Auto einmal voll tanken, einmal richtig schmausen gehen - das Geld ist wieder drin. Überdurchschnittlich teuer ist dort inzwischen das Bier. Ein halber Liter gezapftes Piwo kostet schon mal drei Euro - doppelt so viel wie beispielsweise im polnischen Vorland des Riesengebirges. Was das besagte Frühstück betrifft, konnte wirklich nichts falsch gemacht werden. Leckere Brötchen, leckere Wurst, dazu zwei optimal gebratene Spiegeleier und frisch gebrühten Kaffee. Zu viert legten wir knapp 20 Euro hin, inklusive eine extra Runde Kaffee.

Was wirklich überrascht, ist die Tatsache, dass auf einer Wiese am Ufer der Oder gratis gecampt werden darf. Bis zu zwei Wochen kann man dort sein Campingmobil abstellen und den Blick auf den Grenzfluss genießen. Versorgen kann man sich auf dem anliegenden Markt, bereit stehen auch eine Feuerstelle und mehrere Wasserhähne und Säulen mit Steckdosen (mit Münzeinwurf). Genutzt werden dürfen die sanitären Einrichtungen neben einem dort befindlichen Restaurant. Wenn man bedenkt, dass von dort aus mit dem Fahrrad wunderbare Touren an der Oder unternommen werden können, ist dieser Platz wirklich eine klare Empfehlung wert. Die Silhouetten der Industrieruinen bieten in der Dämmerung zudem einen gewissen Gruselfaktor. Und ja, an der hinteren Tankstelle fühlt man sich wirklich ein stückweit in die entlegensten Ecken der Ukraine versetzt. Oder einfach nur zurück in die frühen 1990er. Sehr schön!

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus Polen

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