Rückblick: Volkskammerwahl 1990, Vorausblick: Gauck als Bundespräsident

Wir sind ein Volk 1:1Manchmal gibt es auch erfreuliche Meldungen aus der Politik. Als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland wurde am heutigen Tag, exakt 22 Jahre nach der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR, mit Joachim Gauck ein Mann gewählt, der 1940 in Rostock geboren wurde und in der DDR gelebt hatte. Ein Kreis schließt sich. Zur Zeit des Umbruchs in der DDR war Joachim Gauck ein führendes Mitglied der Bürgerbewegung Neues Forum in Rostock. Am 18. März 1990 wurde er in die erste freie Volkskammer gewählt. Genau jene Volkskammerwahl legte den Grundstein für die rasche Wiedervereinigung Deutschlands.

Grund genug, einen Blick auf jene bewegte Zeit zu werfen. Herbst 1989. Totaler Umbruch. Die Mauer fiel. An den Polytechnischen Oberschulen ging es drunter und drüber. Die Lehrer wussten nicht mehr, was genau sie den Schülern vermitteln sollten. Staatsbürgerkunde, Geschichte, Einführung in die sozialistische Produktion, Wehrkundeunterricht und auch Geographie. Die Liste war lang an Fächern, bei denen es plötzlich massive Änderungen im Lehrplan gab. Imperialistischer Klassenfeind? Warschauer Pakt? Die wirtschaftliche und politische Überlegenheit des sozialistischen Staatenbundes? Rat der gegenseitigen Wirtschaftshilfe?! Der Ostblock bröckelte und mit ihm das gesamte sozialistische Bildungssystem.

Wahlkampf 1990Für uns Schüler war es eine überaus spannende Zeit. Wir – Jahrgang 1973 und 1974 – waren die letzten Schüler, die im Juni 1990 ein POS-10.-Klasse-Abschlusszeugnis der DDR überreicht bekamen. Eingeschult 1980. Abgegangen im Sommer 1990, zeitgleich mit der Währungsunion.
Was das alles mit Joachim Gauck und der damaligen Volkskammerwahl zu tun hat? Mehr als man denkt, denn der damalige Wahlkampf wurde überall ausgetragen. In den Schulen, in den Kirchengemeinden, in den Straßen, in den Kneipen, auf den Bahnhöfen, in den Kaufhallen, in den Konsums. Der Wahlkampf zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 war wild. Richtig wild. Es gab keine Regeln. Es wurde plakatiert, was das Zeug hielt. Überall. Zu jeder Zeit. Ja, auch ich hatte damals Wahlkampf betrieben. Komplett auf eigene Faust. Mit den Kumpels von der POS. Für uns gab´s nur eine Partei, bzw. ein Wahlbündnis, das man wählen konnte: Die Allianz für Deutschland.

alter TrabbiDem Neuen Forum trauten viele nicht allzu viel zu. Einen Mittelweg wollten viele nicht haben. Klare Lösungen. Für uns Jugendliche gab es nur ein Ziel. Die Freiheit. Und zwar auf Dauer. Kompletter Abriss der Mauer und all der Grenzanlagen. Rot wählen, bedeutete für die meisten, die DDR in irgendeiner Form zu bewahren. Meine Kumpels und ich wollten jedoch die DDR nicht bewahren und somit gingen wir im Februar und März 1990 nachts kleistern. Auf eigene Faust. Einfach die Zettel und Plakate besorgt und dann ran damit an die Wände. Wenn es sein musste, wurden noch ein paar Handzettel mit der Hand geschrieben. Wilder und spartanischer konnte ein Wahlkampf nicht sein. Rauf auf´s Moped und den zuvor angerührten Leim mitgenommen. Leim? In Wasser aufgelöstes Mehl musste es tun. Lange mussten die Plakate eh nicht halten, denn die Konkurrenz aus dem linken Lager schlief nicht.

Es wurde überklebt, übermalt, abgerissen. Mit Papas Leiter stieg ich am Trafohäuschen an der Endhaltestelle der Buslinie Nummer acht hoch und kleisterte die Plakate an. Ja zu Deutschland. Für das sich Auseinandersetzen mit inhaltlichen Details blieb keine Zeit. Weg mit der SED, her mit der deutschen Einheit – und gut war. Selbstverständlich kam später ein wenig die Ernüchterung, doch bereut wurde nichts. Zu jenem Zeitpunkt war das, was getan wurde, genau das richtige.
Wir Jugendliche wussten am Rande von Berlin ganz genau, wo die roten Hardliner wohnten. Genau dort gab es am Stromkasten ein Plakat mehr. Auch die Fassaden der Schule wurden zugepflastert. Das Fenster des Direktorenzimmers wurde undurchschaubar gemacht. Kleistern statt schlafen. Mit der Simson quer durch das Wohngebiet. Bis zum besagten 18. März 1990.

Wahl 90Erleichterung am Abend des 18. März. Über 40 Prozent für die CDU. Gemeinsam mit der DSU und dem Demokratischen Aufbruch holte sie als Allianz für Deutschland 192 von 400 Sitzen. Auch wenn der Wahlkampf der Allianz für Deutschland massiv von der West-CDU unterstützt wurde und somit kleinere Parteien und Bündnisse kaum eine Chance hatten, sich bei den Bürgern Gehör zu verschaffen – von den Regularien her, war die Volkskammerwahl 1990 vielleicht die demokratischste Wahl in der deutschen Geschichte. Es galt ein reines Verhältniswahlrecht, eine Sperrklausel gab es nicht. Die Sitzzuteilung erfolgte nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren. Somit konnten Parteien und Wahlvereinigungen bereits ab zirka der einem halben Mandat entsprechenden Stimmenzahl (0,125 Prozent) Abgeordnete in die Volkskammer entsenden.

Am 18. März 2012 hat sich nun der Kreis geschlossen. Mit Joachim Gauck wurde heute ein Mann deutscher Bundespräsident, der sich damals in der Zeit der friedlichen Revolution für Demokratie eingesetzt hatte. Nach den zehn Bundespräsidenten, die der CDU, der FDP und der SPD angehörten, wurde nun erstmals ein Parteiloser in das Amt des Bundespräsidenten gewählt. Wünschen wir ihm viel Kraft und Energie, damit er das Amt besser und würdevoller ausübt als sein Vorgänger!

> zur turus-Fotostrecke: DDR-Erinnerungen

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen