Olympische Sommerspiele London 2012: Großbritannien im Wiggold-Fieber

AM Updated 05 August 2012
Olympische Sommerspiele London 2012: Großbritannien im Wiggold-Fieber

Wiggins6. Juli 2005. Es ist heiß in Singapur. Vor 110 Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees hält Baron Coe von Ranmore die Rede seines Lebens, die London den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2012 bringt. Sebastian Coe begeisterte schon als Athlet. Er hatte Charisma und eine besondere Ausstrahlung. Mit seinem leichten Laufstiel, seinem Fleiß und Ehrgeiz gelang es ihm 1979 alle drei Weltrekorde über 800 Meter, 1500 Meter und die Meile innerhalb von 41 Tagen aufzustellen. 1981 lief er die 800 Meter in 1:41,73. Dieser Weltrekord sollte über 16 Jahre bestand haben. Innerhalb des gleichen Monats lief er die 1000 Meter in 2:12,18. Erst 1999 wurde diese Zeit von Noah Ngeny unterboten. Beide Zeiten sind immer noch britischer Rekord. 

LondonAuch wenn Großbritanniens Leichtathlet Nummer 1 immer etwas reserviert war, stets in seiner eigenen Suite wohnte, abgeschirmt von allen anderen, war er immer sportlich korrekt und akkurat, so das Statement seiner damaligen und heutigen Kontrahenten. Die Olympischen Spiele 2012 in London tragen vor allem seine Handschrift und beeindrucken natürlich in erster Linie durch die Vielzahl der imposanten Sportstätten. Weltbekannte Schauplätze wie Wimbledon, das New Wembley Stadium, Lord´s Cricket Ground, der Greenwich Park für die Pferdesportveranstaltungen, Beachvolleyball in Horse Guards Parade, Triathlon im Hyde Park sowie Start und Zielankunft des Straßenrennens auf The Mall direkt vor dem Buckingham Palace. Zusätzlich wurde ein völlig neuer Olympiapark mit den modernsten Sportstätten der Welt im Londoner Stadtteil Stratford errichtet. In den sieben Jahren intensivster Vorbereitung ist es London aber vor allem gelungen den traditionellen olympischen Geist in die Neuzeit zu tragen mit der Besinnung auf die Werte der Olympischen Idee. 

Der 1. Wettkampftag – Straßenrennen der Männer

Auf dem Weg nach Dorking zum BoxHill machen wir das erste Mal mit dem wunderbar komplizierten und verdammt teuren System von British Railways Bekanntschaft. Angekommen in Dorking Deepdene Station stehen die ersten Besucher bereits 1,5 Stunden vor der ersten Durchfahrt in 2er Reihen rechts und links entlang der Strecke. Auch wenn am heutigen Tag der britische Top Sprinter Marc Cavendish dem Team GB zum ersten Gold verhelfen soll, merkt man schnell, das Land ist total im Wiggins-Fieber. Nicht verwunderlich, denn schließlich hat der Brite es eine Woche zuvor, in der 109-jährigen Geschichte der Frankreichrundfahrt zum ersten Mal geschafft, das Gelbe Trikot auf die Insel zu holen. Und so huldigen es ihm alle seine Anhänger, egal ob auf zwei oder vier Beinen, indem sie sich mit seinem markanten Schläfenhaarwuchs schmücken. Neben dem Union Jack, avancieren die Wiggins – Kotletten zum Fanartikel Nummer 1.

Olympia 2012Doch Olympia wäre nicht Olympia, wenn es nicht seine eigenen Gesetzte schreiben würde. Während die klar favorisierten Briten und auch das Deutsche Team auf eine Sprintankunft setzten, gelang es den Spaniern und Schweizern deren Taktik zu unterwandern und initiierten frühzeitig eine Spitzengruppe mit holländischer, norwegischer, belgischer, australischer, russischer und italienischer Beteiligung. Während der 9maligen Überfahrung des BoxHill, schickten sie weitere Fahrer in diese Gruppe nach, unter die sich auch der erst 22-jährige US Amerikaner Taylor Phinney, der Columbianer Rigoberto Uran Uran und der Kasache Alexandre Vinokurov mischte. Für die beiden Sprinter und Sieganwärter Marc Cavendish und André Greipel war die neunmalige Überfahrung des BoxHill doch härter als gedacht. Da sie alles auf eine Karte gesetzt hatten und in der Spitzengruppe, die bis dahin auf über 30 Fahrer angewachsen war nicht vertreten waren, wartete auf die Fahrer des Team GB und Team Germany auf der Rückfahrt nach London eine Menge Arbeit.

Christopher Froome, David Millar und vor allem Bradley Wiggins leisteten zusammen mit den beiden Deutschen Bert Grabsch und Marcel Sieberg nahezu übermenschliches, um die Gruppe zurückzuholen. Aber keine Chance. Nachdem Fabian Cancellara ungefähr 10 Kilometer vor dem Ziel schwer stürzte ergriff Rigoberto Uran Uran fünf Kilometer vor dem Ziel die Initiative und setzte sich aus der Spitzengruppe ab. Ihm folgte der Kasache Alexandre Vinokurov. Beide bogen mit 20 Sekunden Vorsprung auf die Zielgerade ein. In dem unachtsamen Bruchteil einer Sekunde, in der sich der Columbianer zur falschen Seite umsah, nutzte der erfahrene Fuchs Vinokurov seine Chance und fuhr zu Gold. Bronze holte der Norweger Alexander Kristoff aus dem Sprint der Spitzengruppe vor dem jungen US Amerikaner Taylor Phinney. Über eine Million begeisterter Radsportfans säumten die gesamte Strecke in teilweise Sechserreihen und feierten natürlich ihren Wiggo trotz der Niederlage des Teams GB.

Der 2. Wettkampftag – Straßenrennen der Frauen

Olympia 2012Trotz des angekündigten regnerischen Wetters, säumten wieder tausende Menschen die Strecke entlang des Straßenrennens der Frauen und pünktlich zum Start öffnete Petrus seine Pforten und bescherte den angereisten Radsportfans typisches Londoner Wetter. Die Laune und den Spaß zum größten Ereignis den Jahres, ließ man sich dadurch aber nicht verderben. Die meisten Zuschauer an der Strecke wahren eh bestens gerüstet und equiped, hatten nicht nur Regenkleidung und Schirm dabei, sondern brachten gleich Verpflegung und zusammenklappbare Sitzmöbel mit, um den ergatterten Platz der besten Sicht nicht aufgeben zu müssen und auch den widrigsten Witterungsbedingungen zu trotzen und bis zum bitteren Ende auszuharren. Aufmerksam verfolgt wurde das Renngeschehen via Smartphon über LiveTicker  und auf den Nahegelegenen Videowänden. So war man auch im Start Zielbereich auf The Mal permanent über den aktuellen Stand der Dinge informiert. Fachkundig wurde sich nationenübergreifend über die Form, das Material und die Taktik der einzelnen Fahrerinen am Streckenrand ausgetauscht. 

Olympia 2012Im Team Germany setzte man auf die gleiche Taktik der Männer am Vortag. Auch die Damen wollten eine Sprintentscheidung, in der Ina Yoko Teutenberg in ihrer letzten Saison eine Olympische Medaille holen sollte. Das ganze schien nicht allzu gewagt, denn die Frauen mussten den BoxHill „nur“ zweimal überwinden und bis zur zweiten Überfahrt sorgten sie auch dafür, dass das Feld zusammen blieb. Doch im letzten Anstieg setzte Marianne Vos die entscheidende Attacke und konnte sich mit der US Amerikanerin Shelley Olds, der Britin Elizabeth Armitstead und der Russin Olga Zabelynskaya ein paar Sekunden absetzen. In dieser Phase des Rennens zögerten die Deutschen ein wenig zu lang und so konnten die Ausreißerinnen ein paar entscheidende Meter gutmachen. Als die US Amerikanerin ungefähr 20km vor dem Ziel Defekt hatte, hatten sich die Ausreißerinnen bereits hervorragend eingespielt und die Zusammenarbeit funktionierte perfekt. Im Hauptfeld überließ man den Deutschen Damen die Nachführarbeit, die das Loch bis zum Ziel nicht mehr zufahren konnten. Ina Yoko Teutenberg gewann souverän den Sprint vom Hauptfeld. Den Kampf um Gold entschied jedoch Marianne Vos für sich vor der Britin Elizabeth Armitstead und der Russin Olga Zabelynskaya.

Das Einzelzeitfahren der Frauen und Männer

ArmstrongDie Startrampe im Innenhof vor der Westfassade des Hampton Court Palace, dem ehemaligen Sitz Heinrich des VIII. aufzustellen, war wieder eine wohlüberlegte Wahl der Organisatoren. Auch die goldenen Thronsessel für die Medaillengewinner sollten die Athleten zu Höchstleistungen anspornen und für hervorragende Bilder sorgen. Der Kurs eher flach technisch nicht sehr anspruchsvoll durch die Londoner Vorrorte südwestlich der britischen Hauptstadt. Hintour Gegenwind Rücktour Rückenwind. Bereits zwei Stunden vor dem Start waren die Straßen rund um Hampton Court wieder gut gefüllt und es war schwer ein Plätzchen in der ersten Reihe zu ergattern. Einige Fahrerinnen und Fahrer nutzten die Zeit noch einmal eine letzte Streckenbesichtigung auf der Zeitfahrmaschine vorzunehmen. Andere, wie die Olympiasiegerein von Peking, Kristin Armstrong saß völlig entspannt im gegenüberliegenden Restaurant bei einer Tasse Café. Wenige Meter weiter, an der Hampton Court Bridge hatten die US-Fans ihr Domizil aufgeschlagen, um ihre Athleten lautstark und mit Spruchbändern zu unterstützen.  

Heute sollte es nun endlich das lang ersehnte Wiggold-Spektakel geben. Mit einer Goldmedaille würde sich der britische Radsportheld sein eigenes Denkmal setzen. Es wäre seine siebte Olympische Medaille und sein viertes Gold. Damit wäre er der erfolgreichste Olympionike Großbritaniens. Doch zuvor gingen die Frauen ins Rennen gegen die Uhr, wo es Judith Arndt gelang die Silbermedaille zu holen. Bronze ging, wie schon im Straßenrennen, an die Russin Olga Zabelinskaya und Gold sicherte sich, wie schon vor vier Jahren in Peking, die US Amerikanerin Kristin Armstrong. Die Zweite Deutsche Fahrerin Trixi Worrack aus Dissen wurde neunte. Somit hatten die Damen erst einmal vorgelegt und die Männer sollten sich gehörig anstrengen, um es ihnen, in dem stark besetzten Fahrerfeld gleich zu tun. Tony Martin gelang es dann aber doch souverän, eingerahmt von den beiden Briten Christopher Froome (Bronze) und Bradley Wiggins (Gold) Platz zwei zu belegen und auf einem der goldenen Thronsessel vor dem Hampton Court Palace Platz zu nehmen. Bert Grabsch belegte Platz 8 und der erst 22-jährige US Amerikaner Taylor Phinney wurde wie schon im Straßenrennen Vierter. 

EZFVorausschauend auf die nächsten Olympischen Spiele in Brasilien (Rio de Janeiro) ist zu sagen, dass auch der brasilianische Starter Prado Magno Nazaret mit Platz 26 eine gute Figur abgegeben hat und auch Clemilda Fernandes Silva bei den Frauen mit Platz 18 ein sehr gutes Rennen abgeliefert hat. Brasilien ist in Sachen Radsport keineswegs ein Entwicklungsland mehr und man darf gespannt sein, wo sich die Athleten in 4vier Jahren, wenn die Olympischen Spiele im eigenen Land vor heimischem Publikum stattfinden, platzieren werden.

Durch den schweren Sturz von Fabian Cancellara ist dem Schweizer am Ende dann doch eine Medaille versagt geblieben. Ansonsten hätte er mit Sicherheit, zumindest um die Vergabe von Silber und Bronze noch ein entscheidendes Wörtchen mitgeredet. Absoluter Überflieger ist jedoch Bradley Wiggins. Er war als einziger mit einem 52er Schnitt unterwegs und ließ die Briten in den umliegenden Pubs auf den Tischen tanzen. Jedes mal wenn er auf dem Bildschirm eingeblendet wurde, brachen seine Landsleute in Jubelschreie aus. Es war eng und stickig eine Atmosphäre so, als wenn der Chelsea FC das Champions League Finale bestreiten würde. 

Britische FansInsgesamt erwiesen sich die Londoner als sehr freundliche und hilfsbereite Gastgeber. Kaum stand man am Straßenrand den Stadtplan aufgeschlagen, war sofort jemand zur Stelle und fragte „Can I help You?“. Nach zwei Tagen haben wir gemerkt, dass es am einfachsten, schnellsten und billigsten ist, sich mit einem Mietrad durch den zähen Londoner Verkehr zu schlagen und man sieht dabei am meisten von der Stadt. Etwas enttäuschend waren die Sportübertragungen der BBC. Zwar gab es eine sehr sach- und fachkompetente Berichterstattung mit hervorragenden Co-Kommentatoren wie beispielsweise Ian Thorpe oder John McEnroe. Aber das Ganze war sehr einseitig auf die britischen Athleten ausgerichtet. Oft war es so, wenn ein britischer Athlet Silber oder Bronze errang wurde nicht einmal der Sieger eingeblendet oder auch nur erwähnt.

Daher ist die Kenntnis der Engländer von anderen Radsportlern beispielsweise auch nur äußerst dürftig. „Ist das nicht der Schweizer?“ „Ach ja der, der im Straßenrennen gestürzt ist“. Das war dann auch schon alles. Tony Martin war nur „a German“ und das war´s. Die Begeisterung an der Strecke war jedoch absolut überwältigend und auch für die Fahrer ein einmaliges Erlebnis, durch einen jubelnden und schreienden Korridor von über einer Million Menschen zu fahren.

Fotos: Arne Mill

> zu den turus-Fotostrecken: Radsport bei Olympia London 2012

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