20. Dezember 2000: Ernemann schießt Union ins Glück und lässt sogar Journalisten Sitzkissen werfen

Ja, ist denn heute schon Weihnachten? Noch nicht ganz. Man schrieb den 20. Dezember 2000, und auf dem Programm stand ein ganz besonderes Fußballspiel. Im Stadion An der Alten Försterei, die zu jenem Zeitpunkt noch den Charme der 80er und 90er Jahre versprühte, wurde um 19 Uhr das DFB-Pokalspiel 1. FC Union Berlin vs. VfL Bochum angepfiffen. Immerhin war dieses Duell als Abendspiel möglich. Kurze Zeit vorher wurde die Flutlichtanlage eingeweiht und auf der kleinen Haupttribüne hatte sich auch etwas getan. Neuer Schwung zu Beginn des Jahrtausends. Nach den mitunter hammerharten Jahren im Nachwende-Jahrzehnt, das von zahlreichen Enttäuschungen geprägt wurde (verpasste Aufstiege, gefälschte Bankbürgschaft, finanzielle Probleme), ging es nun langsam aufwärts. Zwar ging in der Regionalliga Nord (die Regionalliga war von 2000 bis 2008 zweigleisig) Ende 2000 ein wenig die Puste aus, doch Rang vier zeigte es ganz klar an: Da ging noch was! Der Aufstieg ist möglich. Und dieser wurde Ende im Frühjahr 2001 schließlich in trockene Tücher gebracht.

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Neues Jahrtausend - neues Glück. Dies galt nicht nur für die Eisernen, das galt auch für mich. Nach einem Schiffbruch auf der Nordsee bei meterhohen Wellen und Windstärke neun bis elf im November 1999 - eigentlich sollte es mit zwei acht Meter langen Segelbooten einmal um die Erdkugel bis nach Sydney gehen - hieß es für mich: Zurück in Berlin - privat und beruflich komplett neu orientieren. Nachdem ich von 1997 bis Anfang 2000 während des Bootsbaus am Rande Berlins und der gestarteten Segeltour der Fußball mehr oder weniger aus dem Radar verschwand, richtete ich nun wieder verstärkt den Fokus auf das Geschehen in den Stadien in Nah und Fern. Auf einer eigenen Webseite präsentierte ich die ersten Reise- und Fußballfotos. Bereits damals schwebte mir vor, den einstigen Jugendtraum, mit Texten und Fotos mein eigenes Geld zu verdienen, in die Realität umzusetzen. Wie genau - das wusste ich damals noch nicht. Erst einmal besorgte ich mir über eine Bürogemeinschaft einen ersten Presseausweis. Mit diesem bestellte ich auf dem Postweg kurzerhand eine Pressekarte für das besagte DFB-Pokalspiel gegen die Jungs aus dem Pott. Ich staunte nicht schlecht, als dies reibungslos funktionierte und ich in meinem Briefkasten die Karte für das mit Spannung erwartete Match vorfand.

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Fix die neue zugelegte analoge Spiegelreflexkamera eingepackt und ab nach Berlin-Köpenick! Ich suchte mir einen Platz auf dem für Journalisten frei gehaltenen Bereich der kleinen Haupttribüne und ließ meinen Blick über die gut gefüllten Ränge schweifen. 11.045 hatten sich im Stadion eingefunden. Eine gute Hausnummer, wenn man bedenkt, wie das Ganze Mitte der 90er Jahre im Regionalligaalltag aussah, als gegen Altmark Stendal und Energie Cottbus gerade mal 2.000 Unentwegte den Weg auf die sandigen Stufen fanden. Von der Zeit von 1991 bis 1994 in der damaligen Staffel Mitte der NOFV-Oberliga ganz zu schweigen. Eine fünfstellige Kulisse in der Alten Försterei unter Flutlicht - für die Union-Fans ein völlig neues Gefühl.

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Dicht gedrängt zwischen den Journalisten aus Berlin-Brandenburg und NRW saß ich auf meiner Sitzschale und verfolgte gespannt das Spiel. Union hielt gegen die Bochumer gut mit und kam in der ersten Halbzeit sogar zu Möglichkeiten. Alles prima. Nur ein Kollege zwei Sitze weiter nervte gewaltig. Dieser hatte nix anderes zu tun als sein Mobiltelefon zu nutzen und seiner Redaktion im Pott mitzuteilen, dass der VfL ein klares Übergewicht erspiele und die Sache in der zweiten Halbzeit ganz gewiss seinen Lauf nehmen würde. Die Arroganz, die der Typ ausstrahlte, ließ in mir böse Gedanken aufkommen. Halt die Fresse, du Wessi-Fratze, dachte ich. Ost-Berlin wird Bochum noch zeigen, wo der Hammer hängt. Der „Eisern-Berlin-Gedanke“ gefiel mir in den 90ern recht gut. Vor allem, als ich von 1991 bis 1994 im Rheinland wohnte und arbeitete. Berlin, Hauptsache Berlin. In jeder Sportart. Ich markierte im Statistikteil der Sportbild in jeder abgedruckten Tabelle die Teams aus meiner Heimatstadt. Und das sogar beim Wasserball und beim Rollhockey. Im Fußball sah es bekanntlich nicht allzu dufte aus. Umso größer die Freude, als sich endlich was regte. Hertha BSC stieg auf, die Unioner spielten in der Regionalliga gut mit, der BFC Dynamo würde gewiss auch noch bald folgen.

So, ich war auf Betriebstemperatur. Die zweite Halbzeit lief und die Eisernen konnten hinten dicht halten. Die Null stand, nur vorn musste jetzt noch ein Törchen her. 85. Minute. Immer noch 0:0. Es roch nach Verlängerung. Na immerhin. Siehst du, Wessi-Fratze, nix mit nach Hause schaukeln! Dein scheiß VfL wird sein eisernes Wunder erleben! Dachte ich. Äußerlich blieb ich ruhig und anständig. Ich durfte mir schließlich nicht meine große journalistische Laufbahn gleich beim ersten Einsatz verbauen. Eine große Fresse hatte ich immer - auf der Pressetribüne hielt ich jedoch diese mal lieber. Ich dachte an das monströs geile Eishockey-Derby, als die Eisbären mit 4:3 nach Verlängerung bei den Preussen in der Jafféstraße gewonnen hatten. Als klarer Außenseiter! Alter Schalter, was ging ich damals ab! Mit Kumpels saß ich im Sitzplatzbereich. Nach dem Siegestreffer stand ich auf dem Plastiksitz, ballte die Fäuste, tanzte wie ein Rumpelstilzchen - und ja, beschimpfte alle Preussen-Fans um mich herum. Rambazamba! Das Ost-West-Ding wurde in den 90ern noch heiß gekocht!

Heiß wurde es auch am 20. Dezember 2000 im Stadion An der Alten Försterei - und das trotz der empfindlichen Kälte! 89. Minute. Ich rutschte nervös hin und her. Und dann! Die 90. Spielminute! Freistoß für den 1. FC Union Berlin! Der Ball wurde flach an der Bochumer Mauer rechts vorbei gespielt. Von dort aus wurde er reingebracht, Daniel Ernemann war zur Stelle und schob die Kugel zum 1:0 ein. Was für ein Ausbruch der Gefühle! Es gab kein Halten mehr! Das Stadion stand Kopf! Auch die Berliner Pressevertreter rasteten vor Freude förmlich aus und warfen ihre Sitzkissen in die Höhe. Belämmerte Gesichter bei den westdeutschen Kollegen.

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Abpfiff! Union Berlin stand im DFB-Pokalhalbfinale. Auf der Gegengerade wurden hinter dem alten schwarz-roten Ultras-Banner rote Fackeln angezündet. Spieler, Ordner und Betreuer liefen zu den Fans. Hochgerissene Arme. Der 1. FC Union Berlin war wieder jemand. In ganz Deutschland wurde der Verein wahrgenommen. Wenige Monate später spielten die Eisernen im Pokalfinale gegen den FC Schalke 04. Am 30. Juli 2001 wurde daheim das erste Heimspiel in der 2. Bundesliga ausgetragen. Der Gegner: Hannover 96. Ich befand mich wieder auf den Rängen. Nachdem ich nach dem RL-Spiel gegen Rot-Weiss Essen keinen Arbeitsnachweis geliefert hatte, wurden mir vorerst weitere Pressekarten verweigert. Verständlich. Der Kreis schloss sich Anfang 2009, als die Fußballrubrik von turus.net offiziell eröffnet wurde…

Anmerkung:

Dies ist Tür 14 eines Weihnachtskalenders. Tür 15 öffnet sich morgen an dieser Stelle.

Der Fußball-Weihnachtskalender ist ein gemeinsames Projekt von@berlinscochise, ZebrastreifenblogCavanis Friseur, turus.net, Nachspielzeiten und 120minuten.

Informationen zur Fußballblog-Weihnachtskalender-Idee und eine Liste mit allen bisherigen Türchen, die natürlich fortlaufend aktualisiert wird, findet Ihr hier.

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: 1. FC Union Berlin

> zur turus-Fotostrecke: Nordost-Fußball von 2000 bis 2009

Artikel wurde veröffentlicht am
14 Dezember 2017
Spielergebnis:
1:0
Zuschauerzahl:
11.045

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