Das denkwürdige Bild im alten Schuppen: Bern 4. Juli 1954, 17 Uhr 34, Deutschland Weltmeister!

Als die alte schwarz-weiß-Aufnahme an die Holzwand des Schuppens angebracht wurde, war die WM 1954 gerade mal 20 Jahre her, und die westdeutsche Auswahl holte gerade erneut den WM-Titel. Meine Eltern hatten damals in Waldesruh vor den Toren Berlins im Jahr 1974 das Grundstück mit dem Holzhaus aus den 1930er Jahren erworben. Veranda und Schuppen wurden angebaut, und genau in jenem Schuppen befestigte mein Vater das eine oder andere Bild. Ein mit Bleistift gezeichnetes Portrait, ein Vers mit dem Titel „Mein Mütterchen“ und das Foto vom 3:2-Siegtreffer der deutschen Nationalmannschaft im Juli 1954. Neben dem flüchtenden Grenzsoldaten, der in Berlin an der Mauer mit geschultertem Gewehr über Stacheldraht sprang, und dem nackten Mädchen, das in Vietnam nur knapp dem höllischen Inferno entkam und weinend die Straße entlanglief, dürfte der ins Tor sausende Ball eines der weltberühmtesten Motive der vergangenen Jahrzehnte sein. Eine perfekte Aufnahme! Der ungarische Torhüter Gyula Grosics streckte sich vergeblich. Sein linkes Bein ist noch in der Höhe, das Spielgerät hatte soeben die Linie passiert. Perfekt abgedrückt. In einem Bruchteil einer Sekunde. Ein Moment, der in die Geschichte einging. In der 84. Minute erzielte Helmut Rahn den Treffer zum 3:2! Nach einem frühen 0:2-Rückstand gegen den haushohen Favoriten kämpften sich die Deutschen zurück ins Spiel und konnten postwendend ausgleichen. Kurz vor Schluss dann der legendäre Siegtreffer. Das Wunder von Bern!

Die sich fast überschlagende Stimme des damaligen Radio-Reporters Herbert Zimmermann hat wohl jeder im Kopf. „Kopfball … abgewehrt … aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen! … Rahn schießt! Tor! Tor! Tor! Tor! 3:2 für Deutschland! Fünf Minuten vor dem Spielende! Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt…“ Wenig später dann: „Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! … Deutschland ist Weltmeister!“ Das Foto vom 3:2, aufgenommen von schräg hinter dem Tor, und die Stimme von Zimmermann - beides sorgt für Gänsehaut. Auch 63 Jahre später! 

Schuppen

Als kleiner Junge hatte ich striktes Verbot, den alten Schuppen zu betreten und ich werde damals in den 1970er Jahren nichts mit einer Fußballweltmeisterschaft anzufangen gewusst haben. In dem staubigen Schuppen roch es nach Farben, Lacken, Verdünnungsmitteln und anderen Dingen, die nicht in Kinderhände gehören. Zum einen hatte mein Vater Angst, dass ich seine für einen Außenstehenden nicht erkennbare Ordnung durcheinander bringen könnte, zum anderen hatte er Bange, dass ich mit irgendeiner Chemikalie in Berührung kommen konnte. Damals zu DDR-Zeiten wurde so ziemlich alles gebunkert. Da er als Handwerker bei der Chemischen Industrie (FCW / ORWO) gearbeitet hatte, konnten gute Kontakte geknüpft und vielerorts Begehrtes besorgt werden. Und aus meiner Sicht war klar: Verbotene Orte haben ihren Reiz. Kaum kam ich an den Riegel ran, betrat ich heimlich den Schuppen. Ich mag vier oder fünf gewesen sein. Leise schaltete ich das Licht an, die Leuchtstoffröhre flackerte, wenig später bestaunte ich all das Werkzeug und die geheimnisvollen Dosen. An der Innenwand der Schuppentür zeugten Spuren darauf hin, das hunderte Male irgendein Pinsel am Holz ausgestrichen wurde. Diese Tür würde nicht so schnell faulen.

1977

Meine Kinderaugen ließen die Blicke im Schuppen umherschweifen. Ich bestaunte das Foto, das direkt unter der Leuchtstoffröhre hing. Lesen konnte ich noch nicht. Ich wunderte mich nur über diesen „Käfig“, in dem dieser Mann zur Seite sprang. Ich ahnte, dass im Hintergrund Menschenmassen zu sehen sind, doch ganz sicher war ich mir nicht. Es muss damals im Schuppen das erste Mal gewesen sein, dass ich mit Fußball in Berührung kam. Besser gesagt, dass ich mir darüber Gedanken gemacht hatte. Als ich mit meinen Eltern bei einem der vielen Spaziergänge auf dem Sportplatz Waldesruh vorbeigeschaut hatte, verstand ich mit einem Mal den genauen Aufbau eines Fußballtores. Pfosten, Latte, Netz. Ah ja! Die Größe erschien aus Sicht eines vielleicht vierjährigen Stiftes einfach nur utopisch. 

Als ich zu Beginn der 1980er lesen lernte und auf Geheiß meines Vater das eine oder andere Werkzeug aus dem Schuppen holte sollte, um in irgendeiner Ecke des Gartens zu helfen, hielt ich immer kurz inne und betrachtete die Bleistiftzeichnung, das Gedicht und das Foto. „Bern 4. Juli 1954: 17 Uhr 34. Deutschland Weltmeister!“ Allein der Name „Bern“ klang richtig geheimnisvoll. Bern. Dazu die Jahreszahl, die aus Sicht eines Kindes unglaublich lang her erschien. 1954! Drehte man die beiden hinteren Ziffern, ergab es das Jahr 1945 - und von diesem hatte man an der Polytechnischen Oberschule reichlich gehört. Der Einmarsch der Sowjetarmee in Berlin. Die Befreiung vom Faschismus. All dies verknüpfte sich in meinem Geiste. Dass auf dem besagten Foto aus Bern „Deutschland“ stand und nicht etwa „BRD“, wie in der Schule propagiert, verstand ich nicht ganz. Mein Vater hatte darauf eine simple Antwort. Es gebe nur ein Deutschland. Und eines Tages würde auch die DDR wieder dazugehören. Recht hatte er, auch wenn er damals wohl nicht im Traum dran geglaubt hatte, dass bereits paar Jahre später der Eiserne Vorhang fallen würde.

Cola

Viele Jahre später schaute ich mal wieder im Schuppen vorbei. Viel verändert hatte sich nicht. Ganz klar, die Utensilien hängen noch immer an der Wand. In einem Regal fand ich etwas anderes, das meine Aufmerksamkeit auf sich richtete. Leere rote Cola-Dosen. Die mit den Emblemen der Bundesligisten. Stand 1994/95. Unter anderen kickte der TSV 1860 München in Liga eins. Ich hatte damals - wie viele andere Fußballfreunde - die Sammlung komplett. Sie stand auf einem Regal. Später wurden die Büchsen dann doch im Garten ausgetrunken. Leer und verstaubt liegen sie nun bereits seit 22 Jahren. Wahnsinn, wie die Zeit vergeht, denke ich. 22 Jahre! Ziemlich genau der gleiche Zeitabschnitt zwischen dem 3:2 in Bern und dem Moment, als mein Vater das Foto nach dem Kauf des Holzhauses im Schuppen an der Wand aufhängte…

Fotos: Marco Bertram, privat

Artikel wurde veröffentlicht am
04 Juli 2017

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