Der Amateurfußball lebt - es lebe der Amateurfußball! Chemie und Altona 93 steigen auf!

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Runter von Liga zwei direkt in Liga fünf. So schnell kann es gehen, wenn ein „Investor“ mal eben den Geldhahn zudreht. Der Fall TSV 1860 München zeigt, wie labil das Konstrukt Profifußball mit komplett ausgegliederten Kapitalgesellschaften sein kann. An der Leine. Unter Zugzwang. Läuft es sportlich rund, sprudeln die Gelder und alle direkt Beteiligten bekommen fette Stücke vom leckeren Kuchen ab. Geht ein bestimmter Plan nicht auf, hängt der Haussegen richtig schief und die Nerven liegen blank - auf allen Seiten. Noch läuft im Groben das Geschäft in den oberen beiden Ligen prima, und noch gibt es Freiräume / Freiheiten für die aktiven Fanszenen. Dass sich das Korsett allerdings enger und enger schnürt, dürfte kein Geheimnis sein. Das soll jetzt auch gar nicht das Thema sein. Vielmehr zeigt es sich, dass es nützlich sein kann, einen Plan B zu haben. Als wer? Als allgemeiner Fußballfreund, der entspannt in netter Runde beim Bierchen hier und dort ein nettes Spiel sehen will. Als Fußballfan, der sich noch nicht völlig auf einen Bundesligisten XY festgelegt hat und vielleicht nach dem Motto „support your local team“ der Mannschaft in heimatlichen Gefilden die Aufmerksamkeit schenken möchte. Als Fußballfan, der genug vom Kommerz hat und sich komplett abwenden und eine Alternative suchen möchte. Als Fußballfan eines Bundesligisten, der aber durchaus einem Zweitverein die Daumen drücken vermag.

Berlin ist nicht nur Hertha BSC und 1. FC Union Berlin. Hamburg ist nicht nur der FC St. Pauli und der Hamburger SV. Leipzig ist nicht nur RasenBallsport Leipzig. Wenn gleich unter den soeben Genannten zwei Vertreter dabei sind, die nicht auf der Kommerz-Welle ganz vorn schwimmen. Es bieten sich immer Alternativen. Klar, ist man von Hause aus ein eingefleischter Eiserner oder ein Sankt Paulianer, dann wird man auch in Zukunft aktiv seinen Verein unterstützten und für die Freiheit in der jeweiligen Kurve einstehen. Für all die anderen, die einfach aus der Gewohnheit heraus in Bundesligastadien strömen, um nur Fußball zu sehen und quatschen zu wollen, dann sich aber über das auf den Geist gehende Rahmenprogramm, das schlechte wässerige Bier, die fade vorgebratene Massenwurst, das schlecht mundende Formfleischschnitzel, all die nervenden Modefans und fehlende Auslaufmöglichkeit beschweren, sei gesagt: Unterhalb der 3. Liga finden sich reichlich Alternativen.

Altglienicke

Plötzlich hat Berlin noch einen weiteren Regionalligisten. Die VSG Altglienicke holte am vergangenen Samstag ein 2:2 beim SV Lichtenberg 47 und packte somit den direkten Aufstieg. Ohne festen Vereinsbezug mal vorbeischnuppern wollen, wenn in der kommenden Saison der 1. FC Lok Leipzig oder der FC Energie Cottbus ihre Visitenkarte in der Hauptstadt abgeben? Die VSG Altglienicke wird sich über jeden Fußballfreund freuen, der bei den Heimspielen vorbeischaut und sich einen Gerstensaft einschenken lässt. 

Ist Bundesligafußball wirklich ein Muss? Genügen gezeigter Kampf, Einsatz und Leidenschaft bei einem Regionalliga-Match nicht? Zugegeben, unterhalb der Landesliga ist das als Zuschauer mit dem Fußballgenuss mitunter wirklich so eine Sache. Ein Mindestmaß an Spielfluss und technischer Finesse wünschen sich die meisten zuschauenden Fußballfreunde dann eben doch. Glücklicherweise ist das Niveau der vierthöchsten deutschen Spielklasse beachtlich hoch, und es müssen eben nicht immer die technischen Fähigkeiten eines Erstligaspielers sein, um einen erfreuen zu können. Man bedenke, dass die Zuschauer in den 50ern, 60ern und 70ern ebenso fasziniert waren von den Spielen, auch wenn manch eine Sequenz damaliger Partien im Vergleich zum heutigen hochathletischem Betrieb des Premiumfußballs wie Standfußball erscheint. 

VSG

Immer schneller, athletischer, raffinierter und galaktischer. So soll der Premiumfußball daher kommen. Schön und gut. Mir persönlich genügt auch eine Regionalligapartie, vorausgesetzt der gezeigte Einsatz stimmt. Also warum als Leipziger ohne Wenn und Aber in die Red Bull Arena strömen? Mit dem 1. FC Lokomotive und der BSG Chemie Leipzig gibt es sogar zwei prickelnde Alternativen. Ab der kommenden Saison fernab des Bundesligatrubels zweimal Regionalliga-Fußball - und das jeweils in einer altehrwürdigen grandiosen Spielstätte! Zum ersten Mal seit 2008/09 gibt es auch in Leutzsch wieder Regionalliga mit namenhaften Gegnern zu sehen! Die parallel zum noch spielenden FC Sachsen Leipzig im Jahr 1997 neu gegründete und seit 2008/09 am Spielbetrieb teilnehmende BSG Chemie Leipzig ist nun dort, wo sie hingehört: In der Regionalliga Nordost. Ohne Mäzene und große Investoren. Man muss die Chemiker nicht lieben, aber man darf den Hut vor der erbrachten Leistung ziehen. Von ganz unten wieder ans überregionale Licht der Öffentlichkeit gebracht. Trotz des zwischenzeitlichen Gegenwindes (Verband und SG Leipzig-Leutzsch) und der Rückschläge (2013 Abstieg in die Bezirksliga) wurde sich wieder aufgerappelt im Leutzscher Forst. 

Chemie

Angepackt und Nägel mit Köpfen gemacht! Drei Aufstiege in vier Jahren. Der Sprung von der Sachsenliga in die NOFV-Oberliga Nord gelang erst im zweiten Anlauf, der Durchmarsch in die Regionalliga gelang indes auf Anhieb. Mit dem VfB Germania Halberstadt wurde sich ein spannender Zweikampf geliefert. Bis zum letzten Spieltag blieb es eng. Chemie musste am letzten Spieltag daheim im Alfred-Kunze-Sportpark unbedingt gegen Kellerkind SV Schott Jena gewinnen. Es war schließlich von auszugehen, dass Halberstadt in Merseburg nichts anbrennen lassen würde. Vor ausverkauften Rängen - offiziell durften 4.999 Zuschauer im AKS dabei sein (auch der Gästebereich wurde für Heimfans geöffnet) - wollten die Spieler nicht wie im Jahr zuvor im Aufstiegsspiel gegen Glauchau die Fans eine Stunde lang auf die Folter spannen. 

Chemie

Bereits in der zweiten Minute erzielte Tim Bunge das 1:0 für die Betriebssportgemeinschaft Chemie. Nach nicht einmal einer Viertelstunde stand es bereits 2:0 für die Leutzscher, Torschütze war Tommy Kind. Die Gäste aus Thüringen versuchten es jedoch spannend zu machen, in der 23. Minute erzielte Robert Häring den Anschlusstreffer. Umso größer waren Erlösung, Freude und Jubel, als Manuel Wajer kurz vor Schluss mit dem Treffer zum 3:1 für die Entscheidung sorgte. Es rauchte, die Fackeln brannten, nach Abpfiff feierten Spieler und Fans auf dem heiligen Leutzscher Rasen. Ein Raunen ging durch den ganzen Fußball-Osten. Die Chemiker in der Regionalliga?! Nicht wenige schnalzen beim Gedanken an die Duelle Chemie Leipzig vs. 1. FC Lok Leipzig, Chemie Leipzig vs. BFC Dynamo oder Chemie Leipzig vs. FC Energie Cottbus mit der Zunge. Lebendig und farbenfroh dürfte es unter anderen auch beim Auftritt der Chemiker im Babelsberger KarLi werden. Ganz ehrlich: Was würde ich vorziehen, wenn ich noch einmal jung und gebürtiger Leipziger sein würde? Bundesligafußball in der Arena? Oder richtig „alte Schule“ im AKS oder im Plache?!

Chemie

Schauplatzwechsel. Ich gebe zu, dieser Bericht ist von der Euphorie getrieben. Beschäftigt man sich jeden Tag mit Fußball, so hat man viele Vereine im Blick. Erlebt vor Ort und am Bildschirm manch ein geiles Ding und manch ein Drama. Zugegeben, ich hatte früher mit dem Altonaer Fußball-Club von 1893 e.V. nicht allzu viel am Hut. Das lag allein daran, weil sich nie die privaten / beruflichen Wege gekreuzt hatten. Beim ersten Besuch beim Hamburger Oberliga-Derby Altona 93 vs. Victoria Hamburg auf der Adolf-Jäger-Kampfbahn packte es auch mich. Ja, es klingt ausgelatscht, weil wohl jeder Hopper irgendwann einmal vom ältesten deutschen noch ausgespielten Derby schwärmt, doch sei es drum, die Atmosphäre fühlte sich einfach grandios an. Was für eine Gelassenheit. Was für eine Entspannung. Es ist wahrlich nicht nur ein Klischee, dort bei Altona 93 steht in der Realität wirklich die „Zecke“ neben dem Bankangestellten. 

Altona 93 

Nach meinen persönlichen Erfahrungen - es kamen auch ein paar neue gute Hamburger Fußball-Bekanntschaften dazu - warf ich zuletzt auch immer einen Blick auf die Tabelle der Oberliga Hamburg. Zwar ist der Ligabetrieb in Hamburg so schön gemütlich, doch ein paar namenhafte Gegner mit paar Fans dürfen es ja doch ab und an mal sein. Umso größer die Enttäuschung am Abend des 07. Juni 2016, als das Resultat am letzten Spieltag der Aufstiegsrunde zur Regionalliga Nord zur Kenntnis genommen werden musste. 1:2 beim 1. FC Germania Egestorf-Langreder. In der 90. Minute konnte Altona 93 noch zum 1:1 ausgleichen, in der 90.+4. Minute zeigte der Schiedsrichter auf den Punkt. Elfmeter für Germania Egestorf-Langreder. Beismann verwandelte, statt Altona 93 packte nun der Gastgeber gemeinsam mit dem SV Eichede den Sprung nach oben. Zu wenig war halt auch am ersten Spieltag der Aufstiegsrunde das 1:1 daheim gegen Eichede vor 3.562 Zuschauern. 

altona 93

Dies sollte dieses Jahr nicht passieren. Es nicht auf das letzte Spiel ankommen lassen. Bereits zuvor zwei Siege einfahren - und gut ist! Gesagt, getan. Am 28. Mai konnte vor rund 1.700 Zuschauern beim Bremer SV mit 1:0 gewonnen werden. Den Treffer des Tages erzielte Nick Brisev per Elfmeter in der 70. Minute. Der Sack zugemacht werden konnte also bereits am Abend des 31. Mai. In Celle hatte es Altona 93 mit dem FC Eintracht Northeim zu tun. 649 zahlende Zuschauer hatten sich im Bismark-Stadion eingefunden, unter ihnen zahlreiche Altona-Fans. Bereits nach einer Viertelstunde machte Pablo Kunter das 1:0 für Altona 93. Im weiteren Verlauf wurde wieder kein Gegentreffer zugelassen. Der Aufstieg in die Regionalliga Nord wurde ausgelassen gefeiert. Es ist nach 2008/09 das zweite Mal, dass wieder Regionalliga-Luft (in der heutigen Form) geschnuppert wird. Der Vollständigkeit halber muss selbstverständlich erwähnt werden, dass Altona 93 bereits in den 1960er Jahren in der damaligen Regionalliga Nord gespielt hatte. In der Folgezeit waren jedoch Landesliga, Verbandsliga und Oberliga das sportliche Zuhause. 

Altona

Um zurück zur Gegenwart zu kommen: Das Heimspiel gegen Eutin 08 war nur noch Kür. Beide Vereine waren bereits aufgestiegen. Es ging mehr oder weniger ums Feiern - und 3.162 Zuschauer wollten dies am Samstagabend auf der Adolf-Jäger-Kampfbahn tun. Und zwar friedlich, ausgelassen und mit der dort üblichen Gelassenheit. Alle auf den Rasen! Ein paar abgebrannte Bengalen?! Ja prima! Und wen stört´s?! 

Altona 93

91, 92, 93, Altona! Die Gegner in der kommenden Saison heißen unter anderen VfB Oldenburg, VfB Lübeck, ETSV Weiche Flensburg und Lüneburger Sport-Klub Hansa. Auf die Zuschauerzahlen darf man gespannt sein, als Alternative zum Bundesliga-Trubel bietet sich Altona 93 wie die Faust aufs Auge an. Und klar, wenn wir schon einen Blick auf das Fußballgeschehen in der Hansestadt Hamburg werfen, dann sollte das Projekt HFC Falke nicht vergessen werden! Im Juni 2014 ins Leben gerufen, 2015/16 ganz unten den Spielbetrieb aufgenommen - und schon bereits den zweiten Aufstieg gefeiert!

HFC

Nachdem es beim ersten Aufstieg quasi ohne Konkurrenz gemeistert wurde, ging es in der zurückliegenden Saison weitaus enger zur Sache. Mit der zweiten Mannschaft von Altona 93 gab es einen Konkurrenten auf Augenhöhe. Und der Spielplan wollte es, dass es am letzten Spieltag zum großen Showdown kam. Alles oder nichts. Dem HFC Falke genügte ein Remis, um den Sprung nach oben zu packen, Altona 93 II musste gewinnen. 

HFC Falke

1.113 Zuschauer hatten sich zur Mittagsstunde des 20. Mai auf der Adolf-Jäger-Kampfbahn eingefunden. In der 38. Minute schoss Tobias Patrick Leuthold die Falken ins Glück. 1:0 der Endstand - die Feierlichkeiten konnten sich sehen lassen. Emotionen pur - ohne, dass Millionen im Spiel sind. Fußball richtig basic. Wem selbst die Regionalliga zu kommerziell erscheint, dem ist ein Abstecher zum HFC Falke, der in der kommenden Saison in der Bezirksliga spielen wird, wärmstens zu empfehlen. Das Ziel ist eines Tags die Oberliga Hamburg - und mit dieser wird man sich dann auch begnügen. Mehr möchte man gar nicht. Kurzum: All diese Geschichten im Amateurbereich machen Hoffnung. Und sie trösten auch den nostalgischen Mittvierziger, der immer wieder so selig von den 90ern schwärmt. Ja, es wird sie immer geben, diese angenehmen Nischen abseits des Profifußballgeschäfts. Ob nun bei Chemie, bei Lok, bei Altona 93, beim HFC Falke oder aber auch bei der VSG Altglienicke. Wer weiß, wir werden mal schauen …

Fotos: Christian Krohn, Martin Krohn, Felix, Marco Bertram, XY

> zur turus-Fotostrecke: Altona 93

> zur turus-Fotostrecke: BSG Chemie Leipzig

> zur turus-Fotostrecke: HFC Falke

Artikel wurde veröffentlicht am
05 Juni 2017

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Ich liebe Amateurfußball. Ohne wenn und aber. Ich gehe zum Amateurfußball weil man da noch mit 2 Kinder hin gehen kann ohne einen Kredit aufnehmen zu müssen. Und den Bericht finde klasse.
A
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F
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Nun ja,
lieber Marco...warum die Pseudonachfolger Chemie und Lok soviel Publikum in den letzten Jahren in Leipzig eingebüßt haben, solltest Du eigentlich wissen. Auch hatte RBL einen fantastischen Zuschauerschnitt in den drei Jahren Regionalliga...und da war weiß Gott noch nicht alles "geleckt". Und hier sind eben die Kiddies von früher auch groß geworden.
Über L*K brauch man nicht viel sagen...eben mal 10.000 zum Spiel gegen RBL und dann als es um die Insolvenz ging...war kaum einer im Stadion und unterstützte den Club..."echte" Fans halt in Probstheida.
Trotzdem Glückwunsch an Chemie, was dort in den letzten Jahren geschaffen wurde. Und ja, hier ist neben RBL noch genügend Platz für einen attraktiven Stadtteilclub mit anderem Ansatz.
R
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Dufte! Ich freue mich für alle genannten Klubs. Ich kann zwar mit VSG Altglienicke nicht viel anfangen, aber warten wir mal was daraus wird.
J
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G
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