Absturz des TSV 1860 München: Analyse des Abstiegsspiels, der Randale und der Gesamtsituation

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Die Münchner Löwen hatten alles in der Hand gehabt. Nach dem 1:1 in Regensburg genügte ein einfacher Sieg, um den Klassenerhalt zu packen. Und ja, auch ein torloses Remis hätte notfalls gereicht. Vor über 62.000 Zuschauern war gegen den top aufgestellten SSV Jahn Regensburg allerdings nichts zu holen. Bereits nach einer halben Stunde hieß es 0:1 aus Sicht des TSV 1860 München, kurz vor der Pause fiel dann sogar das 0:2. Ein löwenstarkes Aufbäumen? Fehlanzeige! Nicht wenige Zuschauer wendeten dem Spielgeschehen den Rücken zu. Das war einfach nicht zum Anschauen. Während im Gästebereich die Regensburger Fußballfreunde feierten, kochte im Heimbereich die blau-weiße Volksseele. Zehn Minuten vor Schluss kam das Ganze zum Siedepunkt, zur typischen Entladung. Gegenstände wurden auf das Spielfeld geworfen, Sitze wurden herausgerissen. Fußball-Deutschland hatte bereits schlimmere Ausschreitungen gesehen, aber logischerweise musste das Spiel unterbrochen werden. Nach einer Viertelstunde Zwangspause konnten die letzten zehn Minuten schließlich noch über die Bühne gebracht werden. Weitere zehn Minuten blanker Horror aus Sicht der Heimfans. Was für ein Desaster. Der TSV 1860 München, der eigentlich wieder zurück in die Spitze geführt werden sollte, steigt ab und findet sich (vermutlich) in der 3. Liga wieder. 

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Das erste Mal seit der Saison 1992/93 ist der TSV 1860 München nun wieder nur drittklassig. Damals wurden die Löwen unter Trainer Werner Lorant und Vereinspräsident Karl-Heinz-Wildmoser - die beiden Gesichter hat sicherlich noch jeder vor dem geistigen Auge - von der Bayernliga direkt hoch in die 1. Bundesliga geführt. Wahnsinn! Und das nach den verdammt bitteren 1980er Jahren! Nach dem Lizenzentzug am Ende der Zweitligasaison 1981/82 (beendet wurde diese hinter Schalke 04, Hertha BSC und Kickers Offenbach mit Rang vier!) spielten die Sechziger von 1982 bis 1991 in der drittklassigen Bayernliga. Als die erste Rückkehr in die 2. Bundesliga gelang, konnte die Klasse nur für eine Saison gehalten werden. Besser klappte es nach dem Durchmarsch in die Bundesliga. Von 1994 bis 2004 wurde erstklassig gespielt. Leider Gottes mussten die Heimspiele im ungeliebten Olympiastadion ausgetragen werden. Der Zuschauerschnitt sprach Bände, selten lag dieser über 30.000. Und das trotz der Erfolge, so wurde 1999/2000 am Ende sogar der vierte Platz erreicht.

1994

Seit 2004 spielte der TSV 1860 München nonstop in der 2. Bundesliga, die direkte Wiederkehr wurde 2004/05 knapp verpasst. Mut machte die erste Spielzeit in der neuen Allianz Arena. Zwar war auch diese von Beginn an nicht gerade bei den Fans beliebt, doch hatten sich im Schnitt immerhin 41.700 Zuschauer auf den Rängen eingefunden. Der Erfolg blieb aus. Die Zuschauerzahlen sanken wieder stetig. Allein bei einigen Duellen wie zum Beispiel gegen den 1. FC Nürnberg waren die Ränge wirklich gut gefüllt. Sportlich desaströs wurde es ab 2014. Am Ende der Spielzeit 2014/15 konnte in der Relegation gegen Holstein Kiel noch einmal der Kopf aus der Schlinge gezogen werden. Nicht wenige Außenstehende gönnten damals den „Störchen“ von der Förde den Aufstieg.

1860

Nach Rang 15 in der Folgesaison war nun wieder die Relegation angesagt. Den Ausgang kennen wir nun. Apropos: Holstein Kiel hat nun auf direktem Wege den Sprung von der 3. Liga in die 2. Bundesliga gepackt. Wie es nun weiter geht im blauen München, steht in den Sternen. Dies aus der Ferne zu beurteilen, ist sehr schwer. Von daher sprachen wir mit jemanden, der sich im Verein und an der Fanbasis gut auskennt. Claude Rapp ist seit vielen Jahren als Anhänger und Fotograf mit dem TSV 1860 München unterwegs und betreibt die Seite cr-fotos.de. Trotz der gestrigen Enttäuschung erklärte er sich bereit, kurzfristig ein paar Fragen zu beantworten. 

turus: Nach dem 1:1 beim Hinspiel schien die Anhängerschaft des TSV 1860 recht optimistisch - zumindest von außen betrachtet. Ein Sieg - und der Drops wäre gelutscht gewesen. Wie schätzt du die Stimmungslage vor dem Rückspiel ein? Hatte man der Mannschaft es zugetraut, das Ding wieder nach Hause zu schaukeln? 

Claude Rapp: Zugetraut hatte man es der Mannschaft sicherlich, und viele hatten auch das Kiel-Rückspiel in Erinnerung. Als ich vor dem Spiel in die Gesichter der anderen Zuschauer geblickt hatte, hatte ich in hoffnungsvolle Gesichter geblickt. Ein 1:1 beim Hinspiel ist ja schon fast die halbe Miete und dann vor dieser grandiosen Kulisse zu Hause aber um in der Relegation zu bestehen, musst du nicht nur eine Mannschaft sein, sondern ein Team - und das war diese Mannschaft die komplette Saison nicht. Regensburg war die beiden Spiele die klar bessere Mannschaft und ist verdient aufgestiegen. 

1860

turus: Ab welchem Moment kippte eindeutig die Stimmung. Ab wann war klar: Mist, hier geht nix mehr. 1860 steigt ab! 

Claude Rapp: Mir, und ich denke dass ging den vielen anderen Fans im Stadion auch so, wurde es in der Halbzeit klar, dass wir das nicht mehr schaffen. Wie soll diese Mannschaft noch 3 Tore schießen? Aber wie heißt es so schön, die Hoffnung stirbt zuletzt. Die Hoffnung starb dann auch in der 70. Minute, und die Stimmung kippte dann ab der 75. Minute, wo es dann so langsam anfing unruhig zu werden auf der Nordtribüne, und ab der 80. Minute fing es dann mit der Spielunterbrechung an. Ich denke, da hat sich der jahrelange Frust bei den treuen Fans entladen. 

turus: Die Medien sprechen immer schnell von neuer „Qualität der Gewalt“. Wie schätzt du die Vorkommnisse ein. Klar, Gegenstände auf Personen zu werfen, ist nicht entschuldbar. Aber unter dem Strich: Würdest du auch sagen, das war besonders heftig? Oder gab es in all den Jahren mit den Sechzigern Momente, bei denen du sagen würdest, das war wirklich noch eine Nummer härter!? 

Claude Rapp: Für einen Außenstehenden, der sich mit Fankurven/Fanszenen nicht auskennt, mag es bedrohlich bzw. heftig wirken, aber das war es nicht. Ich denke, da gab es in den Jahren zuvor bei anderen Relegationsspielen heftigere Ausschreitungen, ich erinnere mich da an das KSC-Heimspiel gegen Regensburg oder damals in Düsseldorf. Klar, Spielunterbrechung, Gegenstände auf den Platz werfen und eine schlimme Verletzung an anderen Personen hin zu nehmen, ist nicht entschuldbar. Ich hatte bei einer großen Zeitung gelesen, dass Eisenstangen geflogen wären, das stimmt so nicht, es waren PVC-Stangen. Es war auch keiner so richtig entschlossen, den Platz zu stürmen, und die Polizei hatte auch direkt mit einem Großaufgebot vor der Kurve gestanden und hatte alles unter Kontrolle. Im Moment kann ich mich nicht an etwas Härterem erinnern außer das massive Abbrennen von Pyrotechnik, was aber nicht zu so einer Spielunterbrechung geführt hat. 

1860

turus: Was passierte eigentlich nach dem Spiel? Gab es draußen noch Vorkommnisse? Hatten sich einzelne Gruppen noch getroffen und das Ganze ausdiskutiert? 

Claude Rapp: Soweit ich das mitbekommen habe, gab es nach dem Spiel keinen Kontakt zu Regensburger Fangruppen. Es wurde aber seitens der 1860 Fans versucht, an die Gästefans ran zu kommen, scheiterte aber an der großen Menge an Polizisten, die den Gästeblock abriegelten. Man hörte auch von einem Versuch an die Mannschaft  ran zu kommen, was aber auch nicht geklappt hat.

turus: Der TSV 1860 steht vor einem Scherbenhaufen. Deine Einschätzung: Wird das was mit der Lizenz in der 3. Liga? 

Claude Rapp: Sowie ich das aus den Zeitungen entnommen habe, dürfte es da keine Probleme geben, wenn der Investor noch Lust auf sein „Projekt“ hat. Hat er keine Lust mehr und zahlt nicht die geforderte Summe, sieht es mit der Lizenz schlecht aus. Viele Fans, mit denen man sich unterhalten hat und auch meine Wenigkeit, hoffen natürlich auf einen Neuanfang und einen richtigen Umbruch im Verein. 

1860

turus: Und wenn ja, wird dann an der Grünwalder Straße gespielt? 

Claude Rapp: Auch hier kann ich es nicht zu 100 Prozent sagen, aber man hört, dass wir in der Arena bleiben zwecks einer eventuellen Rückkehr in die 2. Bundesliga. Das geliebte Grünwalder ist nicht zweitligatauglich, und würden wir frühzeitig aus den Arena-Verträgen kommen, hätten wir kein zweitligataugliches Stadion. Ich kann mir aber vorstellen, dass wir eventuell für ein paar Spiele in der kommenden Saison im Grünwalder spielen werden. Sollten wir in der RL antreten, spielen wir sicher im Grünwalder Stadion.

turus: Manche sprechen von der „Tour über die Dörfer“ in der 3. Liga. Das ist natürlich ein Witz, weil es unter anderen nach Osnabrück, Magdeburg, Rostock, Münster, Erfurt, Chemnitz, Karlsruhe und eventuell nach Jena und Mannheim geht. Alles gute Namen, alles interessante Gegner. Fantechnisch steht die 3. Liga der 2. BL kaum nach. Würdest du meinen, manch einer freute sich sogar auf den Abstieg. Mal was Neues, ein Schnitt, ein Neuanfang… 

Claude Rapp: Ich denke in den nächsten Wochen wird man sich dann auf die neuen Gegner und Grounds freuen, aber im Moment ist man noch enttäuscht und traurig. Wie du sagst, gibt es fantechnisch und von den Stadien her viele Highlights. Auch ist man auf den „Neuanfang“ gespannt. Aktuell sind der Geschäftsführer und Präsident zurückgetreten, auch der Trainer und viele Spieler stehen in Frage und werden den Verein wohl verlassen. Ich hoffe, dass wir zur neuen Saison dann ein TEAM haben, mit dem wir uns identifizieren können, und da würde ich es begrüßen, wenn das Urgestein Daniel Bierofka Cheftrainer wird und wahre Löwen wie Stefan Aigner bleiben würden. Wichtiger wird es sein, dass es auf der Geschäftsstelle wieder rund läuft und alle an einem Strang ziehen und dann Personen was zusagen haben, die Verantwortung übernehmen und den Löwen wirklich im Herzen tragen. 

turus: Andererseits: Es könnte ja noch tiefer gehen. Angenommen, es würde in die RL gehen. Nur theoretisch. Wie groß wäre die Fanbasis? 

Claude Rapp: Gemäß unserem Motto „Einmal Löwe – Immer Löwe“ stehen die Fans hinter dem Verein, und ich denke in der RL hätten wir genauso viele Fans am Start wie sonst auch, zumindest mal in den ersten Jahren sollte es nicht direkt raus gehen. Viele der alten Fans sind mit unserem geliebten TSV 1860 München in der Bayernliga unterwegs gewesen, und die haben das damals auch mit gemacht. Muss eine interessante Zeit gewesen sein. 

1860

turus: Man las vom fünffachen Abstieg. Das mit den zweiten und dritten Mannschaften dürfe den meisten klar sein. Aber was hat das mit den Jugendmannschaften auf sich? 

Claude Rapp: Einen fünffachen Abstieg als „Gesamtpaket“ aufgrund der ersten Männermannschaft gab es nicht. Abgestiegen sind die Profis, deshalb müssen unsere Amas runter in die Bayernliga, obwohl in der Regionalliga Bayern Platz zwei belegt wurde. Die A- und B-Jugend ist rein sportlich auch aus der jeweiligen Bundesliga abgestiegen. In Folge dessen muss allerdings auch die U16 aus der Bayernliga eine Etage tiefer.

turus: Zu dir ganz persönlich: Wie ist deine Gefühlslage? Der TSV 1860 stand ja bereits öfters kurz vor dem Absturz. Ganz soooo überraschend kommt der Abstieg ja nicht - auch wenn es wohl keinen Plan B für die 3. Liga gibt. Wut? Trauer? Was überwog gestern bei dir? 

Claude Rapp: Im Moment ist es bei mir so, dass ich gar nichts fühle bzw. irgendwie geschockt bin. Ich denke in ein paar Tagen freue ich mich dann auf die neue Saison und den Neuanfang. Gestern standen mir schon die Tränen in den Augen, war wütend und fassungslos. Viele Nachrichten von Freunden, Bekannte von anderen Fanszenen und meine wundervolle Freundin bauen aber einen wieder auf und dann geht’s eben in einer neuen Liga weiter – getreu dem Motto „Einmal Löwe – Immer Löwe“. 

turus: Claude, vielen Dank für das Interview!

Fotos: Claude Rapp

> zur turus-Fotostrecke: TSV 1860 München

> zur turus-Fotostrecke: SSV Jahn Regensburg

 

Artikel wurde veröffentlicht am
31 Mai 2017
Spielergebnis:
0:2
Zuschauerzahl:
62.200

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Tolles Interview, danke für die ehrlichen Worte. Gut auch mal wieder die Klarstellung zu den anderen Medien
P
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J
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G
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schade
wirklich schade, dass man jemanden, der so unqualifiziert die gewalt realtiviert, so viel platz einräumt. allein der vergleich mit dem düsseldorfer platzsturm macht deutlich, dass der interviewte offensichtlich wenig ahnung hat
G
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Das war doch echt abzusehen. War nur eine Frage der Zeit bis der Abstieg erfolgt. Ist so wie beim HSV: Große Versprechen, große Fresse und dann nix. Na okay, Hamburg packte es noch mal, 60 war nun reif für den freien Fall. Fallobst eben.
J
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G
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