16:15 war am Freitag wieder Schicht im Schacht. Schnell die Sachen getauscht und ab auf die Landstraße. So viele sinnvolle Freitagspiele gibt es hier nicht. Das ist ja nicht Hamburg! Nach Hamburg sollte es einen Tag später gehen. Eigentlich. Als ich wieder den Ausgangsort erreichte, sagte die Falke-Seite, dass Lurup nicht antreten wird. Ein Nichtantritt nach diesem Hinspiel! Unfassbar!!! Das spricht aber Bände. Da kann man nichts machen. Eine kleine MV-Ticket-Fahrt sollte es aber schon sein, da ich mich schon darauf eingestellt hatte. Endlich wieder Sozialstudien. Aus der Liste, der noch fehlenden sinnvollen Grounds traf es Neustadt-Glewes „Stadion der Lederwerker“.
Fortschritt Neustadt-Glewe vs. Rotation NK - so richtig old school
Bis zum ersten Umstieg war gar nichts los. Mal ein Blick vor das Portal des Bahnhofs gewagt, werde ich sofort angesprochen: „Hallo Micha, Fußball?“ Ein Mitschüler, den ich vor zehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, kaufte morgens Brötchen am Bahnhof. Anscheinend bin ich nicht wesentlich gealtert. Jetzt wurde es voller im Zug – Samstags-Arbeiter, Ausflügler und bereits viele in den letzten zwei Jahren Zugezogene. Obwohl Hansa spielte, war von Hansa noch nichts zu sehen. Kein Fußballzug-Feeling? Doch. Den Part übernahmen dann schon bald die vielen weiteren seit ca. zwei Jahren hier Wohnenden, die auf dem Weg nach Hamburg nun doch von überall zahlreich zustiegen. Die Treppen besetzen, Bier trinken, den Durchgang blockieren und einfach laut sein. Dabei stand der geringe weibliche Anteil dem männlichen in nichts nach. Die paar Einheimischen in diesem Abteil waren selbst in Gespräche vertieft oder schüttelten mit dem Kopf.
Dann stand „endlich“ „Hagenow-Land“ auf dem Bildschirm. Hagenow-Land ist ein ähnlicher Klassiker wie Herzberg (Elster), Doberlug-Kirchhain oder Runowo Pomorskie. Bei dortigen Aufenthalten durchschreitet man die Sphäre, in der sich Sekunden anfühlen wie Minuten und Minuten wie Stunden usw. Es gibt aber noch Hagenow-Stadt. Passend fährt dort die Bimmelbahn hin, die dann in Richtung Parchim starten und wieder bei „Land“ halten wird. Beim letzten Aufenthalt durfte ich diese Ruhepause sogar mitmachen, da der Kutscher einen zum Quatschen suchte. Das klappte heut nicht. Aber eine halbe Stunde kriegt man hier locker rum. Der Vormittag war schon angebrochen und nun kamen die, die bisher fehlten. Richtig! Die Stars aus den Reality-Soaps mit Nachwuchs. Lesen ging nicht, an Schlaf war nicht zu denken, also wurde sich das Programm reingezogen. „Oskaaaar, setzt du dich jetzt bitte hin! Oskar! Oskar, setz dich!“ Kurz vor dem Zielbahnhof waren wir nur noch ca. 10: Meine Person, ein allein reisender Behinderter, der ständig was äußerte, eine junge Russin, die nie im Leben damit gerechnet hatte, dass ihr jemand gegenübersitzt, der einen Teil vom Gespräch über ihre Geldangelegenheiten verstehen konnte sowie die üblichen vor zwei Jahren Zugezogenen, die aber nicht auffielen und leise waren.
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben – in Neustadt-Glewe kamen mir dann zwei von den übleren Gesellen entgegen, die fast die ganze Gehwegbreite einnahmen und offensichtlich irgendeinen aggressiven Kram durch die Gegend schrieen. Ist es zuviel verlangt, sich einfach angemessen zu verhalten? Es gibt doch schon genug Einheimische, die sich nicht benehmen können. Zwei Stunden vor Anstoß musste zunächst unüblicherweise die Rückfahrt geplant werden. Ein Bahnhof in einer Stadt mit 6.500 Einwohnern wird doch wohl einen Automaten haben!? Weit gefehlt. Hier fehlten nur noch die rollenden Steppenläufer, die man aus den alten Western kennt. Das Netz sagte 16:12 nach Schwerin, die Tabelle 16:12 nach Parchim.
Spätestens 16:12 werde ich schlauer sein. Wählt man sich den alten Bismarck-Stein als Ziel, dann kommt man an allen Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei – die Burg, das Schloss und viele Fachwerkhäuser. Das Stadion liegt auf der anderen Seite des Haltepunkts. Für zwei Euro gibt es eine echte Eintrittskarte mit Wappen und aus Pappe - zwar unhandlich in der Größe, aber dafür sehr schön. Fortschritt war der Namenszusatz von Vereinen mit Trägerbetrieben aus der Textil-Branche. Daher heißt das Stadion auch „Stadion der Lederwerker“. Das Werk ist heute komplett verschwunden. Nach der Schicht, so erzählt ein älterer Herr, sind hier die Arbeiter hergekommen und haben das Areal noch selbst zu einem Stadion umgewandelt. Nach der Renovierung wurden hier sogar schon Nachwuchsländerspiele ausgetragen. Fortschritt jedoch hat nie eine große Rolle im DDR-Fußball gespielt.
Sogar noch weniger nach der Wende. In der Landesklasse geht es um die Qualifikation für eine der neuen 8. Ligen. Rotation Neu Kaliß ist Letzter. Dennoch gehen sie nach drei Minuten schon in Führung. Fortschritt nimmt’s gelassen und gleicht sofort aus. Pausentee. Die Tribünen leeren sich – bei 49 Zuschauern kein Thema. Ja, zwei Stück davon stehen hier. Die Sitzbänke wurden selbst gebaut. Daneben gibt es noch ein paar verwitterte Stufen. Um den Rest des Platzes führt ein Wall. Die zweite Hälfte war packend, denn Fortschritt musste etwas unternehmen für drei wichtige Punkte. Es ging ziemlich ruppig zu. Dazu noch kleine Provokationen, sodass die Grundstimmung jetzt nicht mehr so nett war. Der Torwart von Fortschritt wird verletzt und von beiden Seiten eilt irgendwer auf’s Feld. Der eine Betreuer, der andere ein hilfsbereiter Fan. Jener holt auch für den gegnerischen Torwart den Ball, doch dieser lässt ihn wie ein grobmotorisches Kleinkind gegen das Schienbein prallen und wegkullern. Ein „Streitgespräch“ entsteht und irgendwer von beiden äußert „Eierkopp!“. Schon ewig nicht mehr gehört.
Hier ist fast alles „alte Schule“. Angefangen von den Stühlen im Casino, die bestimmt schon seit der Eröffnung dort den Hintern einen weichen Platz bieten, über die Schrankwand mit unzähligen Pokalen bis hin zu den Schals. Anscheinend gibt es bei Fortschritt keine Fanartikel. Bestimmt sechs Leute liefen hier mit selbst angefertigten Teilen rum - wie zu DDR-Zeiten. Direkter Freistoß, Tor des Monats! Doch zählt er nicht, da er hätte indirekt ausgeführt werden sollen. Dann bekommt Fortschritt einen Elfer zugesprochen, der aber gehalten wird. Endlich klingelt’s dann doch noch. Bin zum Ende wird gezittert, doch siegt schließlich Fortschritt. Begleitet vom Regenschauer geht’s zurück zum Haltepunkt. Parchim steht an der Tafel, nach Parchim wollen die vier Leute am Bahnsteig, Parchim leuchtet auch am Zug. Wo fährt er hin? Nach Schwerin! Der Schaffner ist Insider, der Schaffner weiß es. Die Zugnummer ändert sich zwischendurch. Wer das nicht weiß, kann zwei Stunden mehr Aufenthalt in Neustadt-Glewe einplanen. Der Rest der Fahrt läuft eigentlich recht entspannt. Ab Rostock reden zwei picklige Milchgesichter angeregt über Karten, Monster und darüber, wer wen tötet. Es geht, ihr ahnt es schon, um irgendwelche Computerspiele. Freaks. So denken die bestimmt auch über Leute, die endlich Neustadt-Glewe abhaken möchten…
Fotos: Michael
Ligen
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VG Kai