Bökelberg, Tivoli und Volksparkstadion: Erinnerungen an vom Wind getragene Schlachtrufe

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Wehende Fahnen. Papierschnipsel werden vom Wind über die nicht überdachten Ränge getragen. Ebenso trägt der Wind die Schallwellen der Schlachtrufe und des Trommelns von Tribüne zu Tribüne. Nieselregen kommt auf. Die Lichtkegel der Flutlichter werden jetzt noch deutlicher. „VfL, VfL, VfL!“ Herbst 1992 bei einem Heimspiel der Borussia aus Mönchengladbach im Bökelbergstadion. Steile Stufen, Bratwurstgeruch. Windböen, die einem den feinen Regen in das Gesicht peitschen. Und nach dem Spiel? Der legendäre Gang durch die Innenstadt. Ortswechsel. Auch hier wurde es feucht. Plötzlich plätscherte es von hinten an meine Beine. Was zum Teufel? Ein arg wankender Fan hatte seinen Hosenstall geöffnet und ließ es fröhlich laufen. Der Urin lief über die Betonstufen im Gästeblocks des alten Düsseldorfer Rheinstadions. Zweite Liga. Hertha BSC zu Gast bei der Fortuna. Es muss 1992 oder 1993 gewesen sein. Was für ein Stadien! Was für Zeiten, in denen es mitunter noch weitaus unbedarfter, anarchischer, rauer, ungezügelter und - nun ja - auch mal feuchter zuging. Anfang der 1990er Jahre. Die Zeit, in der ich zum Fußball kam. Ihn lieben lernte mit all seinen Facetten. Der Hosenschlitz wurde öfters mal in der Öffentlichkeit geöffnet. Mal ließ es ein betrunkener Fan auf den Rängen rauschen, mal wurde auf der Auswärtsfahrt im Bus ungehemmt das gute Stück der Sitznachbarin angeboten, und mal - so geschehen beim Rostocker Auswärtsspiel in Köln Müngersdorf im Mai 1992 - wurde vom Gästeblock aus die Fleischpeitsche den Kölner Hools im auf dem Oberrang befindlichen Block 38 präsentiert. Vielleicht einfach nach dem Motto, seht her wir von der Ostseeküste haben den Größten! Vielleicht aber war der Typ auch nur im Suff-Koma und wusste gar nicht was er tat. Egal. Die Erinnerungen an diese Zeit blieben haften. Der Fußball vor 25 Jahren ist kaum mit dem von heute vergleichbar. Dies trifft auch auf die Stadien zu. Vergleicht man den alten Bökelberg mit dem neuen auf dem Acker errichteten Borussiapark, so wird mehr als deutlich, wie schnell sich das Rad der Fußballgeschichte gedreht hatte.

Es ist ja nicht so, dass man durchweg diese alten Stadien aus den 70ern, 60ern oder gar 50ern geliebt hatte. Es war damals eine Art Hassliebe. Wie sehr hatte ich mich über die flachen Stufen im Gästeblock des Duisburger Wedaustadion aufgeregt, wenn ich mal vorbeischaute, als Bayer 04 Leverkusen oder Hertha BSC zu Gast waren. Dazu die weiten Entfernungen zum Spielfeld aufgrund der grässlichen Rundlaufbahnen. Der Muff der 70er durchzog das Rheinstadion und das Müngersdorfer Stadion. Und trotzdem liebte man sie. Von Kommerzialisierung war noch keine Spur. Und ja, es juckte halt niemanden, ob da jemand an den Wellenbrecher strullerte (es sei denn, die teure Jeans eines Hools wurde getroffen) oder ob da kiloweise Senf verschüttet wurde. 

Köln

Gehe ich persönlich im Geiste die alten Stadien jener Zeit durch, so kann ich auf Anhieb immer eine Anekdote oder ein Spiel aufzählen. DIE Anekdote oder halt DAS Spiel, welches ich in den 90ern dort erleben durfte. Stadion An der Alten Försterei: Aufstiegsspiel der Eisernen gegen Bischofswerda. Das Parkstadion in Gelsenkirchen: Der von Kölner Hools aufgeschnittene Zaun am Nikolaustag 1992. Oder auch die Derbys gegen Borussia Dortmund, als es quasi keine Pufferbereiche gab. Frankfurter Waldstadion: Der überraschende 3:0-Sieg von Bayer 04 Leverkusen bei der Eintracht im DFB-Pokalhalbfinale im Frühjahr 1993. Das Stadion an der Hafenstraße in Essen: Ganz klar der 2:0-Sieg von Rot-Weiss Essen gegen Tennis Borussia Berlin. Ebenfalls ein Pokalhalbfinale. Das alte Rudolf-Harbig-Stadion in Dresden: Der 1:0-Sieg von Dynamo gegen den 1. FC Kaiserslautern. Der vorletzte Sieg in der Bundesliga. Das Dortmunder Westfalenstadion vor dem Umbau: Die gesehenen Heimsiege vom Block 13 aus. Die Pyro. Die fliegenden Becher. Diese krasse Enge. Damals hatte ich einige Male im schwarz-gelben Epizentrum vorbeigeschnuppert. Das alte Leipziger Zentralstadion: Das letzte Spiel des VfB Leipzig in der 1. Bundesliga gegen Bayer 04 Leverkusen. Das Müngersdorfer Stadion: Die reichlich besuchten Partien, die ich vom Gästeblock aus gesehen hatte. Das Highlight schlechthin: Der Auftritt von Celtic Glasgow im Herbst 1992. Ja, es war der letzte Europapokalauftritt des 1. FC Köln. 

Lev

Und da wäre unter anderen noch das alte Ulrich-Haberland-Stadion in Leverkusen. Die brennende Würstchenbude im damals unüberdachten Block H beim Pokalspiel gegen die Geißböcke im September 1991. Das dramatische 4:4 gegen Benfica Lissabon zwei Jahre darauf. Der 6:1-Sieg gegen den FC Schalke 04 am 26. September 1992. Und ja, ein Länderspiel hatte ich im Ulrich-Haberland-Stadion auch gesehen, und zwar das gegen Luxemburg am 18. Dezember 1991. Vor vollen Rängen ging das EM-Qualifikationsspiel mit 4:0 aus. Ich könnte ewig weiter erzählen und von all den Anekdoten zu den jeweiligen alten Spielstätten berichten. Jeder wird andere Highlights im Kopf haben - und eben diese können im Geiste hervorgeholt werden, wenn es einen Stein des Anstoßes gibt. Ein altes Fotos, einen Vermerk - oder am Besten ein ganzes Buch!

HSV

Im arete Verlag erschien kürzlich das Werk „Vom Stadion zur Arena. Wenn Herz und Seele verschwinden - eine Hommage an alte Pilgerstätten deutschen Fußballs.“, das genau diese alte Erinnerungen wieder aufleben lassen vermag. Verfasst wurde es von Klaus-Hendrik Mester, der zuvor bereits das Buch „Fußball leben im Ruhrgebiet. Eine Zeitreise durch 13 Städte voller Fußball-Leidenschaft“ (ebenfalls beim arete Verlag) herausgebracht hatte. Gesehen, bestellt, in Windeseile im Briefkasten vorgefunden. Umschlag geöffnet. Ein Blick auf das Cover. Das erste Durchblättern bei einer Tasse Kaffee. Begeisterung wurde entfacht! Es ist mit Sicherheit keine neue Idee, alte Spielstätten zu beschreiben und mit Hilfe von alten Aufnahmen in einem Buch unterzubringen. Lohnenswert ist dieses 176-seitige Werk in jedem Fall. 

Buch

22 Stadien werden vorgestellt. Vom Tivoli in Aachen über den Sportplatz am Rothenbaum in Hamburg und das Magdeburger Ernst-Grube-Stadion bis hin zum Rostocker Ostseestadion. Zuerst gibt es die Fakten (Baujahr, Umbau, Standort, Kapazität) und die besonderen Spiele, im Anschluss folgen ein Text mit Anekdoten und einige historische Fotos. Zum Abschluss folgt jeweils eine blau unterlegte Seite mit weiterführenden Informationen. Da ich von 1991 bis 1994 in Leverkusen gewohnt hatte, blätterte ich mal gleich vor zum Kapitel „Bauwut unterm Bayerkreuz“. Da mit dem Corporate History & Archives der Bayer AG zusammengearbeitet wurde, gibt es grandiose Luftaufnahmen aus allen Epochen zu sehen. Ein echter Brüller ist das Stadionfoto aus dem Jahr 1959. Ein flaches, weitläufiges Stadion auf einer Wiese. Grün, viel Grün gab es damals ringsherum. Noch keine Autobahn. Noch keine Rundsporthalle. Auf der Aufnahme aus dem Jahre 1975 sah es bereits etwas anders aus. Aber nur etwas. Zwar standen bereits Autobahn und Rundsporthalle, doch ansonsten gab es ringsherum noch viel Brache zu bestaunen. Lückenlos wurde dokumentiert, wie die erste neue Tribüne errichtet wurde, im Anschluss dann die neue Gegengerade. Anfang der 1990er blieb nur noch die Lücke im alten H-Block. Erstaunlich, wie dieser zur Zeit der Wendezeit zurückversetzt wurde. Ende der 80er Jahre befand er sich noch direkt am Spielfeldrand, später dann gab es viel Freiraum zwischen Block und Spielfeld. In diesem konnten immer hübsch die Fahrzeuge für Werbezwecke abgestellt werden. Relativ grün ist es auch heute noch im Umfeld der BayArena, doch wirkt aus der Luft alles viel strukturierter als beim Blick aus der Luft Ende der 50er Jahre.

Im Kapitel über das Bökelbergstadion werden auch die Anfeuerungsrufe der Fans erwähnt. Das vom Wind getragene „VfL, VfL!“ hatte sich wohl bei jedem im Geiste fest eingebrannt. Ebenso der Konfettiregen. Abgedruckt wurde in diesem Fall auch ein Stadionplan des Bökelbergs. Das hätte ich mir bei jedem der 22 Stadien gewünscht. Überaus erfreut war ich, dass das Stadion Donnerschwee („Hölle des Nordens“) in Oldenburg und der Sportplatz am Rothenbaum in Hamburg mit ins Buch aufgenommen wurden. Inhaltlich zu meckern gibt es nichts. Im Kapitel zum Rostocker Ostseestadion kommt Juri Schlünz in Form eines Interviews zu Wort. In anderen Kapiteln baut der Autor eigene Erlebnisse ein. Zahlreiche Fotos stammen von Autor selbst und von Ansgar Spiertz. 

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Gibt es nichts zu meckern? Doch! Das Buch ist zu dünn! Es müsste 300 Seiten haben! Mehr, bitte noch mehr! Noch mehr Stadien, noch mehr Fotos! Noch mehr Anekdoten! Aber ich weiß, dann würde es eine ganze Ecke mehr kosten. So ist es mit 19,95 Euro durchaus erschwinglich. Das komplett farbige Buch ist seinen Preis wert. Wofür gibt man nicht alles beim Fußball Geld aus? Da ist dieses Werk auf jeden Fall den Zwanni wert, zumal das Kostbare an diesem Buch: Die eigenen Gedanken spinnen beim Lesen und Durchblättern weiter. Ihr wisst schon, der strullernde Herthaner, das 4:4 gegen Benfica, der Nieselregen auf dem Bökelberg. Das allein ist unbezahlbar. Selbstverständlich sind online tausende Fotos verfügbar. Gut gebündelt auf Papier haben diese Fotos jedoch einen viel größeren Wert. Mal auf einer Parkbank in der Sonne sitzen. Eine Kanne Bier. Oder auch eine Café Latte. Dabei schmökern, die Augen schließen und dabei denken: Meine Güte: Ist das wirklich schon 25 Jahre her?

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Nein, es soll nicht nur gelobhudelt werden! Kritik muss sein! Den Platz, den 176 Seiten einem bieten, hätte man noch besser nutzen können. Allein 22 Seiten für die weiterführenden Informationen - das hätte nicht sein müssen. Ein kleines Infokästchen mit weiterführender Literatur hätte genügt, So hätte sich noch mehr Raum geboten. Dass es zum Magdeburger Ernst-Grube-Stadion nicht noch zwei, drei weitere Farbfotos aus den 80er oder 90ern zu sehen gibt, ist schade. Andererseits hätten die 22 eingesparten Seiten Platz für vier weitere alte Stadien geboten. Das alte Neckarstadion in Stuttgart. Die alte Spielstätte des Halleschen FC Chemie. Das Bremer Weserstadion vor dem Umbau. Und vielleicht auch noch dazu das Berliner Olympiastadion vor der Modernisierung, als noch die Steinsäulen bröckelten und sich Tropfsteine bildeten.

Trotz dieses Kritikpunktes: Ein Buch, das mir persönlich sehr gut gefällt!

Fotos: Marco Bertram, Claude Rapp, Karsten Höft

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Artikel wurde veröffentlicht am
29 September 2016

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