Vor Ort in Kostrzyn nad Odrą: Polnischer Jubelsturm im schweren Sommergewitter

KostrzynDunkle Wolken brauten sich am Samstagnachmittag in Kostrzyn nad Odrą, der Heimatstadt des polnischen Nationaltorhüters Łukasz Fabiański, zusammen. Als gegen Mittag ein guter Freund und ich auf der restaurierten Festung Küstrin saßen und eine Rhabarber-Limonade schlürften, fühlte sich die Luft an, als sei man am Amazonas. Kein Wunder, dass sich bei diesen tropischen Temperaturen oben in den Lüften etwas tat. Bis zur EM-Partie Polen gegen Schweiz waren es noch zwei Stunden. Um dieses Spiel gemeinsam mit polnischen Fußballfreunden zu schauen, wurde sich kurzerhand in den Zug gesetzt. Quasi ein Katzensprung von Berlin-Lichtenberg aus - und doch erwartet einen in Kostrzyn eine andere Welt. Gemeint ist nicht der große Polenmarkt, der in vielen Fällen das einzige ist, was die Deutschen von der 18.000-Einwohner-Stadt, gelegen in der Woiwodschaft Lebus / Powiat Gorzowski, kennen. Vielmehr gemeint ist das Geschehen auf den Straßen, in den Kneipen und Restaurant der Innenstadt. Direkt am Grenzfluss Oder gelegen, und doch könnte man meinen, man befände sich ein ganzes Stück landeinwärts. Optimal also, um mit Einheimischen der polnischen Nationalmannschaft die Daumen zu drücken.

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PolskaWährend über der Oder die dunklen Wolken heranwalzten, gingen die Erinnerungen zurück. An solch einem Ort wie der Festung Küstrin, die am Ende des Zweiten Weltkrieges sehr hart umkämpft war und erstaunlich lange gehalten werden konnte, wird man sehr schnell nachdenklich. Von der Festungsmauer aus kann man einen Blick auf die einstige Altstadt von Küstrin werfen. Heute erinnern nur noch die Fundamente der einstigen Gebäude daran, dass hier einst das Leben auf den Kopfsteinpflasterstraßen pulsierte. Ich denke zurück an meine ersten Fahrten nach Polen. Anfang der 1980 eine Fahrt mit den Eltern nach Stettin, 1987 eine Betriebsferienlagerfahrt nach Warschau und Mikoszewo, gelegen an der Weichselmündung. Wie zu Hause hatte ich mich immer gefühlt in Polen, auch wenn in den 1990ern skurrile Gestalten einem Reisenden bei Bahnfahrten oder auf Märkten und Bahnhöfen stets das Leben schwer machen konnten. 1995 fuhr ich das erste Mal nach Jelenia Góra im Vorland des Riesengebirges, 12 Jahre später lernte ich - wie der Zufall es wollte - eine Frau aus dem einstigen Hirschberg kennen. Inzwischen haben wir zwei gemeinsame Kinder, und Jelenia Góra und Cieplice sind inzwischen zur zweiten Heimat geworden. Keine Frage also: Auch der polnischen Nationalelf wird ganz fest die Daumen gedrückt!

Gegen 13:30 Uhr brach das Unwetter über uns ein. Unter den restaurierten Torbögen, in den teilweise noch die Einschusslöcher zu sehen sind, suchten wir Unterschlupf. Es goss aus Kübeln, und ein Blitz schlug unweit der Festung ein. Als kurzzeitig der Regen nachließ, führte der Weg in ein in der Innenstadt gelegenes Restaurant. Gegrilltes Filet mit Spinat und Beilagen. Wahnsinn, was die polnische Küche inzwischen zu bieten hat. Die Zeiten,als es quasi nur Piroggen oder Borschtsch gab, sind längst vorbei. Und auch die 1990er sind passé, als man in Polen ein Stück Fleisch bekam und jede Beilage mühsam extra bestellen musste. Egal, ob in Jelenia Góra, in Poznan oder in Kostrzyn nad Odrą - in den meisten Fällen wird sich größte Mühe gegeben, etwas überaus leckeres auf den Tisch zu zaubern. Während es draußen grummelte und donnerte, wurde im Restaurant unaufgeregt gebrutzelt und gefuttert. Dass gleich in Kürze das Polen-Spiel beginnen würde, war nicht zu merken. Allesamt hatten die Ruhe weg. Das Licht flackerte kurze. Zehn Minuten später war der Strom weg. Ein Blitz musste irgendwo eingeschlagen sein. Aufregung hinter dem Tresen? Fehlanzeige. Ein Lächeln. Ein Blick auf das Laptop, das schließlich auch mit Akku weiter arbeitet. Plötzlich gingen die Lichter wieder an.

Nun aber! Rechnung bezahlt und im strömenden Regen eine passende Kneipe gesucht! Bamm! Wieder Stromausfall! Vor einer Kneipe standen einige stabile Polen und zogen an ihren Zigaretten. Die Zwangspause wurde halt als Raucherpause genutzt. Das Spiel lief längst - und der große Flachbildschirm war dunkel. Murrig wurde deshalb niemand. Allerdings bestaunten uns die Polen, als wir im Regen vorbeihasteten. Über meiner Schulter baumelte ein bedruckter Stoffbeutel des FC Polonia Berlin. Hinein in die gute Stube? Erst einmal zogen wir weiter. Vielleicht klappt es eine Straße weiter mit der Stromversorgung. Vor einem Supermarkt standen die Leute drinnen und draußen verwundert vor der Tür. Ohne Strom ging es nicht mehr rein und raus. Als mit einem Mal überall in den Läden wieder die Lichter angingen, eilten wir wieder zurück. Petrus ließ es jetzt richtig herunterjauchen. Mit steifer Brise von schräg vorn. Nichts wie rein!.

PolenZirka 20 Männer von Jung bis Alt verfolgten gespannt das Spiel. Noch stand es 0:0. Doch wir standen gerade einmal zwei Minuten unweit des Tresens, als Jakub Blaszczykowski das 1:0 für Polen erzielte. Was für ein Ausbruch der Gefühle! Mit der Gelassenheit war es nun vorbei. Arme wurden hochgerissen. Ein Jubel wie aus dem Bilderbuch. Auch wir gingen ab wie Schmidts Katze und tanzten Polka. Ein Endvierziger umarmte uns sogleich und drückte uns an sich heran. Blaszczykowski! 1:0 gegen die Schweiz! Als der Jubel abebbte, staunte er erst einmal. Ach, wir sind gar keine Polen? Aus Deutschland? Das Gespräch war eröffnet und sollte die kommenden sechs Stunden nicht mehr enden. So gut wie jeder in der schlicht eingerichteten Kneipe konnte Deutsch sprechen. Einige hatten beruflich in Deutschland zu tun, zwei von ihnen pendelten sogar täglich zwischen Kostrzyn nad Odrą und Berlin. 

PolenHalbzeitpause. Eine Menthol-Zigarette an der frischen Luft. 2020 sollen diese von der EU verboten werden. Ach ja, die EU! Aber das war an diesem Tag nicht wirklich Thema. Zweite Halbzeit. Das Bier floss und das Spiel wurde richtig spannend. Als Xherdan Shaqiri in der 82. Minute den Ausgleich für die Schweiz erzielt hatte, musste erst einmal tief durchgeatmet werden. Puh, das würde noch eine schwere Angelegenheit werden. Und wahrlich, in der Verlängerung wurde die Schweiz immer stärker. Je näher das Ende der Verlängerung rückte, desto unruhiger wurde es. Das gefiel zwei Männern gar nicht, die durch eine Luke von einem Raum quer über den Tresen in den anderen Raum schauten. Ruhe hier! Die einen wollten einfach nur gebannt auf den Bildschirm starren, die anderen tauschten sich aufgeregt aus. 120 Minuten waren vorbei. Kein Problem, meinte unser neuer polnischer Kumpel, der eine leitende Funktion beim örtlichen Verein Celuloza Kostrzyn innehat. 100 Prozent bringen die fünf beim Elfmeterschießen antretenden polnischen Spieler. Die können das! Die Spieler wurden durchgegangen. Schau mal, Lewandowski - sicher. Milik - sicher. Blaszczykowski - sicher. Und auch Krychowiak - eine sichere Bank.

JubelIch blieb skeptisch, hoffte aber selbstverständlich das Beste. Und ja, im Tor stand Łukasz Fabiański, der im April 1985 in Kostrzyn nad Odrą geboren wurde. Bis dato wusste ich das nicht, umso größer mein Erstaunen beim Gespräch beim frisch Gezapften. Hatte er auch mal bei Celuloza gespielt? Immerhin hat der Verein durchaus Historie und kann kleine Erfolge aufweisen. So spielte der Verein in den 1980ern sogar zwei Jahre in der zweiten polnischen Liga. Mag sein, dass Łukasz Fabiański noch als Mini in Kostrzyn gespielt hatte, als Jugendlicher war er bei Polonia Słubice und MSP Szamotuły unter Vertrag. Nach seinen Stationen Lubuszanin Drezdenko, Sparta Brodnica und Mieszko Gniezno wechselte er 2004 zu Lech Poznan. Von nun an ging es steil bergauf. Nachdem er bei Lech nur Reserve war, folgten bei Legia Warszawa immerhin 53 Einsätze. Ein erster Einsatz in der U20-Nationalmannschaft war der Lohn der Mühe. Von 2007 bis 2014 folgte seine Zeit beim Arsenal FC. 32-mal durfte er das Tor hüten. 2014 ging es schließlich zu Swansea City, wo er als Stammtorhüter regelmäßig zum Einsatz kommt. Wohl denn, halt einen Elfer, Łukasz! 

Dazu kam es nicht. Allerdings verhaute Granit Xhaka als zweiter Schütze den Elfer. Nerven wie Granit? Fehlanzeige! Erstaunlich weit neben das Gehäuse wurde der Ball gesetzt. Frenetischer Jubel in der Kostrzyner Kneipe. Ich bereitete die kleine Kamera vor. Ein kurzes Filmchen beim entscheidenden Schuss. Grzegorz Krychowiak trat an und haute als fünfter Schütze den Ball in die Maschen. Polen war weiter, die Schweizer mussten als bessere Mannschaft die Segel streichen. Jubel und Schulterklopfen und fröhliche Gesichter in Kostrzyn. Wenn das keine Runde Wodka wert war! 

Der Nachmittag nahm seinen Lauf. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und draußen setzten wir uns allesamt auf die Bänke. Solch ein Sieg musste weiterhin begossen werden. Die Zeit verrann wie im Fluge. Wales gegen Nordirland? Komplett verpasst! Ich staunte nicht schlecht, als ich abends auf Toilette ging und soeben die Partie Kroatien vs. Portugal angepfiffen wurde. Mein Kumpel und ich taten das, was wir immer an unterhaltsamen Abenden tun. Wie schaut es aus mit Armdrücken? Überraschende Gesichter? Keineswegs! Na klar, immer gern! Konnte ich mich in Deutschland stets gut beweisen und stets einige Überraschungssiege einfahren, so war dieses Mal kein Kraut gewachsen. Jeder in der Runde war stabil gebaut. Der Bauunternehmer ließ nichts anbrennen. Ein weiterer lieb aussehender Pole um die 50 trat ebenfalls an. Mit einem Lächeln drückte er uns auf den Tisch. Da half kein Fighten und auch keine Überraschungsattacke. Ist aber nicht schlimm gegen ihn zu verlieren, wurde uns erklärt. Er hatte 25 Jahre lang mit Steinen gearbeitet. Wieder ein entspanntes Lächeln. Gegen zwei Jungs, die sicherlich unter 30 waren, war erst recht kein Ankommen. Kampfsportler. Das Shirt wurde am späteren Abend gelüftet. Die Brustmuskeln wurden angespannt. Kein Gepose, alles mit völliger Entspanntheit. Nicht jeder auf der Terrasse war begeistert von uns deutschen Gästen. Als ein Tisch weiter gemault wurde, gab es vom „Papa“ neben uns eine klare Ansage. 

PolenAls im Zuge des Alkoholgenusses dann irgendwann die Stimmung doch zu kippen drohte, unsere Befürworter waren plötzlich nicht mehr zu sehen, machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Außer uns beiden stand noch ein Mann mit seiner kleinen Tochter auf dem verwaisten Bahngleis. Ein Zug nach Berlin? Heute noch? Hier fährt nichts mehr! Aufgrund des Schienenersatzverkehres auf einem Streckenabschnitt war der letzte Zug früher abgedüst als sonst. Hauptgewinn. Ein Zimmer nehmen? Lieber erst einmal ein Bier, forderte mein Kumpel. Ich musste passen und setzte mich auf eine Bank. Plötzlich kamen sie wieder hoch - all die unangenehmen Seiten vergangener Reisen. Februar 1995. Eine Nacht allein auf Liverpool Lime Street. Den letzten Zug verpasst und dort von einem Irren bedrängt worden. Was für gruselige Nächte ich bereits erlebt hatte. Vor allem in den 1990ern, als vielerorts die Bahnhöfe noch um einiges trister und grauer waren. Aber auch die Nächte auf Kölner U-Bahnhöfen waren legendär. Die Zeit notgedrungen totschlagen. Sehnsüchtig auf den ersten Zug warten. Im Halbschlaf auf Bänken vor sich hin dämmern. Hoffen, dass man nicht von irgendwelchen Typen aufgemischt wurde. Glücklicherweise ist der Bahnhof von Kostrzyn inzwischen sauber und recht hell - Gemütlichkeit bzw. Behaglichkeit sieht jedoch anders aus. 

DBUm 3:43 Uhr sollte laut Fahrplan der erste Zug gen Deutschland rollen. So früh an einem Sonntagmorgen? Fast zu schön um wahr zu sein. Und tatsächlich, als einzige Fahrgäste konnten wir in der Dunkelheit den bereitgestellten Ersatzzug der Deutschen Bahn betreten. Alte Waggons, die nur noch für solche Fahrten zum Einsatz kommen. In Gorgast hieß es wieder aussteigen. Im zaghaften Morgengrauen stand der Bus bereit, der uns nach Müncheberg brachte. Eine skurrile Fahrt durch die Brandenburger Landschaft. Im Magen rumorte es ganz leicht, der Kopf war schwer und bleiern. Aber immerhin, die Nacht auf dem Bahnhof konnte halbwegs (mein Kumpel bekam es noch mit vier stresssuchenden Typen zu tun) entspannt über die Runden gebracht werden. Beim Blick auf die dunkle vorbeirauschende Landschaft ging mir der zurückliegende Tag noch einmal durch den Kopf. Ich schaute auf mein Telefon. Um 4:06 Uhr erreichte mich eine SMS. Bring bitte dann morgens frische Brötchen mit! Polnische Gelassenheit auch bei meiner polnischen Partnerin. Ob ich allerdings zum Frühstück nach zwei Stunden Schlaf pünktlich aus dem Bett kommen würde - das war mehr als fraglich. Und ob es im Viertelfinale auch wieder nach Kostrzyn nad Odrą gehen wird? Nein, dieses Mal wird die Kneipe des FC Polonia Berlin eine gute Möglichkeit sein. Bis zum nächsten Fußballtrip nach Kostrzyn müssen erst einmal wieder die Defizite beim Armdrücken ausgeglichen werden… ;-)

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Europameisterschaft 2016

Artikel wurde veröffentlicht am
27 Juni 2016

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Kommentare
Super - ist vorgemerkt
Danke für den Tipp Herr Bertram! Ich werde gleich mal beim Buchhändler meines Vertrauens das Buch bestellen - ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für mich selber.
Und die Neuankündigung klingt schon mehr als interessant, das Buch dürfte eine Wissenslücke bei vielen Fans schließen und die literarische Landschaft bereichern!
Viel Erfolg!
B
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@ BVB09:

Also einige Anekdoten (privates, Reise) gibt es im Fußballbuch "Zwischen den Welten" zu lesen. Nachdem jetzt mein Buch über Hansa Rostock rauskommt und im Herbst ein Buch über Brasilien beendet wird, setze ich mich noch einmal richtig ran: Ein Buch über die 80er und 90er. Das dürfte dann ganz nach Ihrem Geschmack sein! ;-)

Beste Grüße
Marco
MB
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Erinnerungen
Mensch, die Erinnerungen die Sie immer kurz anreißen, klingen immer so spannend und vielseitig - könnten die nicht mal in einem größeren Rahmen Dargeboten werden, vielleicht in Buchform?
B
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Das nächste Mal von dort berichten!!!

http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-gesundbrunnen-polnische-fussballfans-randalieren-nach-em-sieg/13789158.html
K
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T
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G
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