Fröhlicher „Pionierausflug“ und emotionaler „Platzsturm“ beim Merseburger Derby

Stahl„Fröhlich sein und singen … andern Freude bringen. Ja, das lieben wir. … Hört ihr unsre Lieder? Das sind wir! … Hallo, hebet die Fahnen höher, denn die helle Zukunft, das sind wir!“ Moment, werden sich jetzt einige DDR-Kinder sagen. Ist das nicht ein Lied, das man einst als Junger Pionier im Musikunterricht der POS auswendig lernen musste? Richtig! Und genau dieses im Geiste bereits halb verstaubte Lied fiel mir gestern ein, als ich das mit Spannung erwartete Stadtduell in Merseburg besuchte. VfB IMO Merseburg vs. SV Merseburg 99. Erster gegen Zweiter der Verbandsliga Sachsen-Anhalt. Nachdem bereits das Hinspiel knapp 800 Fußballfreunde besucht hatten, wurde das Rückspiel in meinem Kalender fett markiert. Auf nach Merseburg, wo einst zu DDR-Zeiten die BSG Stahl Merseburg, die BSG IMO Merseburg und die BSG Chemie Buna Schkopau das runde Leder rollen ließen. Ich gestehe, die ersten beiden Vereinsnamen waren mir nicht wirklich geläufig, der der BSG Chemie Buna Schkopau schon eher. Und das hat seinen guten Grund. In der Saison 1981/82 war dieser Verein in der DDR-Oberliga zu finden. Es blieb allerdings bei diesem einjährigen Erstliga-Abenteuer. Immerhin drei Saisonsiege (1:0 gegen Hansa Rostock, 3:1 gegen Energie Cottbus und 4:3 bei Sachsenring Zwickau konnten eingefahren werden. Siege für die Ewigkeit. In der Nachfolgezeit spielte die BSG Chemie Buna Schkopau in der DDR-Liga (zweite Liga), nach der deutschen Einheit wurde der Verein als SV Merseburg 99 neu gegründet.

IMOUnd der heutige VfB IMO Merseburg? Ich gebe zu, ich war falsch gewickelt und musste mich bei einem kühlen Blonden im Vereinsraum zwei Stunden vor Anpfiff schnell eines besseren belehren lassen. Der Blick an die ausgeschmückten Wände des Raumes ließen schnell erkennen: Auch dieser Verein hat eine lange Tradition. Ja, mit gewisser Skepsis las ich anfangs den Vereinsnamen und der schlimme Begriff „Retorte“ machte sich bereits im Geiste breit. „IMO“ im Vereinsnamen? Ist das gar ein künstlich hochgepushtes Konstrukt? Mit Erstaunen las ich dann, dass es bereits zu DDR-Zeiten eine BSG IMO Merseburg gab, die unter anderen in der Sektion Ringen sportliche Erfolge feiern konnte. Hinter der Abkürzung „IMO“ steht „Industriemontagen Merseburg“ - ein Unternehmen, das bereits 1953 ins Leben gerufen wurde. Und da an der Wand des Vereinsraumes auch ein alter Wimpel mit der Aufschrift „BSG Stahl Merseburg“ hängt, wurde schnell klar, dass ein weiterer Verein die Wurzel des heutigen VfB IMO Merseburg bildet. Die BSG Stahl Merseburg war von 1955 bis 1957 und von 1980 bis 1990 in der Bezirksliga Halle angesiedelt. 1990 wurde schließlich der VfB IMO Merseburg gegründet, und das derzeitige Ziel ist klar gesteckt: Die Südstaffel der NOFV-Oberliga.

MerseburgIn genau diese möchte auch der SV Merseburg 99 aufsteigen, und hinter vorgehaltener Hand munkelt man, dass eventuell beide Merseburger Vereine den Sprung in die Fünftklassigkeit schaffen können, da die Verbandsliga Sachsen-Anhalt zwei Aufstiegsplätze erhalten könnte. Der Grund: In Thüringen möchte in dieser Saison kein Verbandsligist den Aufstieg wagen, der sächsische Landesverband beharrt indes darauf, dass - derzeit sehr zum Leidwesen der BSG Chemie Leipzig - nur ein Verein nach oben darf. Eine Ausnahme wie im letzten Jahr, der Glückliche war der zweitplatzierte International Leipzig, wird es wohl dieses Jahr nicht geben. Sei es drum, sicher ist sicher. Und schließlich ging es gestern auch um die Lorbeeren. Wer ist die Nummer eins in der Stadt Merseburg?

Osten rocktDie Verantwortlichen des VfB IMO Merseburg hatten ganze Arbeit geleistet. Es war angerichtet auf dem Sportplatz am Ulmenweg. Drei Bierstände und ein Grillstand wurden aufgebaut. An allen Ecken herrschte zwei Stunden vor Anpfiff reges Treiben. Ja, eine gewisse Aufregung bzw. Nervosität war auch zu spüren. Aber das ist klar, wenn es um Platz eins geht und knapp 1.000 Zuschauer auf die Sportanlage strömen. Letztendlich waren es 967 Fußballfreunde, die dieses Duell sehen wollten. Eine gute Hausnummer für die sechste Liga! Bei strahlendem Sonnenschein füllte sich der Sportplatz, überraschend war indes, dass die Bierstände bei der herrschenden Wärme nicht allzu sehr frequentiert waren. Wenn man das mit einem Regionalliga-, Oberliga- und manch einem Verbandsligaspiel in Berlin vergleicht. Vielerorts gehört es ja fast zum guten Ton, länger an Wurst- und Bierständen zu stehen, als auf den Rängen / an der Bande. 

IMONicht so gestern in Merseburg. Von Besäufnissen keine Spur. Volle Konzentration auf das Spielgeschehen. Neben der Trainerbank hatte sich der „Fanclub Goldene Raben 95“ mit einem grünen großen Banner „Wohin es auch geht, wir sind dabei!“ positioniert. Auf der Gegenseite, auf der ein kleiner langer Rasenhügel eine gute Sicht bietet, waren zwei heimische Zaunfahnen zu sehen. „Fanclub VfB IMO Merseburg“ und „Die Nr. 1 im Saalekreis“. Dass Merseburg nahe bei Halle liegt, war ebenfalls nicht zu übersehen. Das eine oder andere Shirt und Tattoo sprachen eine deutliche Sprache. Merseburg ist Einzugsgebiet des Halleschen FC. Aktiven Support für die beiden Merseburger Vereine gab es indes in dem Sinne nicht, doch das dürfte bei Sechstligisten kaum überraschen. Immerhin konnten knapp 1.000 Zuschauer angelockt werden. Und das, obwohl der Sportplatz am Ulmenweg nicht gerade im Stadtzentrum liegt.

MerseburgAktiv wurden indes andere Zuschauer. Kurz nach Anpfiff, der aufgrund des Zuschauerandrangs ein paar Minuten später erfolgte, konnten am Eingang zahlreiche grüne Fahnen gesichtet werden. Doch ein Support der Gästefans? Ein anderer Zuschauer gab jedoch fix Auskunft. Bei den Fans mit grünen Utensilien des SV Merseburg 99 handelt es sich um Bewohner der Flüchtlingsheime. Diese wurden vom SV Merseburg 99 eingeladen. Oha, eine tolle Geste! Allerdings wurde mir weiterhin mitgeteilt, dass diese im Gegenzug für Stimmung sorgen sollen. Mit extra gekauften Fahnen, Trommeln und Schals. Dafür sollen diese sogar Geld erhalten, so munkelt man. Von offizieller Seite ist dies jedoch nicht bestätigt, also bleiben wir lieber beim dem, was ich mit eigenen Augen sah.

MerseburgEtwas orientierungslos - wer kann es den Asylbewerbern / Flüchtlingen auch verdenken - liefen die mit den Utensilien ausgestatteten neuen Fans des SV Merseburg 99 umher. Einige stellten sich auf die Längsseite, andere warteten hinter dem Tor. Nach einer klaren Anweisung einer Person wurde sich geschlossen hinter dem Tor postiert. Trommeln. Fahnen schwenken. Stimmung wie aus der Retorte. Wahrlich ein skurriler Anblick. Nichts gegen den Fakt, dass die aus Syrien und anderen arabischen Ländern Stammenden zum Fußball eingeladen werden, doch der Support wirkte doch arg künstlich und ziemlich fehl am Platze. Ein Vergleich gefällig? Handball-WM in Katar. Bei mir richten sich als langjähriger Fußballbeobachter sogleich die Nackenhaare auf, wenn auf irgendeine Art und Weise künstlich versucht wird, für „Stimmung“ zu sorgen, damit das hübsch und nett aussieht. Dass ich sogleich an RasenBallsport Leipzig oder den Berliner AK 07 denken musste, dürfte klar sein. Auch wenn die Schnittmenge nicht allzu groß sein mag.

MerseburgDass es bei den Eingeladenen mit der ehrlichen Begeisterung auch nicht soooo weit bestellt war, konnte im Laufe des Spiel beobachtet werden. So wurde sich in der ersten Hälfte der zweiten Halbzeit beim Spielstand von 2:2 auch schon mal unter einem Baum gelümmelt oder gelangweilt am Handy getippt. Die Fahnen standen zu diesem Zeitpunkt an einem der Bäume gelehnt. Und ja, hier ist der Brückenschlag zum Beginn dieses Berichtes. Ich fragte mich während des Spiels, was an diesen Fahnen nicht stimmt bzw. an was mich diese erinnern. Und ja, bingo, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Diese gedrechselten Spitzen der Fahnenstangen. Wie damals die Fahne, die beim Fahnenappell auf dem Schulhof der POS von der FDJ-Sekretärin getragen wurde. Wahrlich, dieses Detail ließ die gestrigen Fahnen eher an irgendwas Politisches denken, als an Fußball. Die mitgebrachten, noch nagelneuen, Trommeln ließen meine Gedankengänge an „Timur und sein Trupp“ weitergehen. 

MerseburgMein lieber Herr Gesangsverein. Nach kurzer Anweisung wurde zur Endphase der Partie hin wieder für Stimmung gesorgt. Der Spielverlauf tat sein Übriges. Was zum Teil genau gerufen wurde, war schwer zu verstehen. Es schien jedoch, dass mitunter der Einfachheit halber einfach „Syria“ gerufen wurde. Völlig verrückt wurde es am Ende, als lautstark ein „Geht nach Hause!“ gerufen wurde. Das „Hause“ in diesem Fall mit gesprochenem „é“. Der Grund: Der SV Merseburg 99 hatte das Derby überraschend deutlich mit 5:2 gewinnen können. Wie die Feuerwehr waren die Gäste in die Partie gestartet. Bereits nach nicht einmal neun Minuten stand es 0:2 aus Sicht des Gastgebers. Doppelter Grund für manch einen Zuschauer, die Augen zu verdrehen. Oliver Seidel und Ousmane Diakho hatten die ersten beiden Treffer erzielt.

MerseburgPostwendend sorgten jedoch Mario Schaaf und Pavel Pfeifer dafür, dass es nach etwas über einer Viertelstunde 2:2 stand. Holla die Waldfeh, was für ein Derby! Das Ergebnis hatte Bestand bis zur 76. Minute. Dann machte Oliver Seidel zwei weitere Tore klar und Stephan Neigenfink sorgte in der 84. Minute für den Schlusspunkt der Partie. Nach Abpfiff der umkämpften Partie taten einige eingeladene Gästefans das, was sie wohl öfters im Fernsehen gesehen haben. Mit wehenden Fahnen auf den Rasen stürmen und mit der Mannschaft feiern. Wenn das in der möglichen kommenden Oberliga-Saison mal nicht ins Auge geht! Aber ja, es gibt schließlich den Mann, der die Anweisungen gibt, und genau jener beorderte die Platzstürmer mit barschem Ton zurück an den Spielfeldrand.

MerseburgEinmal in Schwung gekommen und Blut geleckt, wollten die Gäste mit Trommel, Fahnen und Schals weiter feiern. Geschlossen ging es nun singend in Richtung Innenstadt. Vorbei durch den Park am hinteren und vorderen Gotthardteich. Manch ein Anwohner und auf einer Parkbank sitzender Spaziergänger staunte nicht schlecht, wer dort singend durch die Stadt marschierte. In jedem Fall lohnt es sich, in Zukunft zu beobachten, ob das Projekt „Neue Fans und neue Stimmung für den SV Merseburg 99“ von Dauer ist, oder ob die Beteiligten auf gut Deutsch gesagt irgendwann keinen Bock mehr haben und die Fahnen und Trommeln achtlos in die nächste Ecke gefeuert werden.

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Derby in Merseburg

Artikel wurde veröffentlicht am
09 Mai 2016
Spielergebnis:
2:5
Zuschauerzahl:
967

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4 Kommentare
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Ein sehr guter und ausführlicher Bericht, dem ich nichts hinzuzufügen bzw bemängeln kann !
I
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M
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M
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G
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