Graupel und Jubel auf dem Zeckenhügel: Altona 93 holt Derby-Sieg gegen Victoria

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AltonaDer Begriff „Tradition“ wird beim Fußball ohne Frage inflationär genutzt, vor allem wenn es um ein Derby geht. Schnell wird Duell XY zum Derby schlechthin erklärt, um die Massen zu bewegen und die mediale Berichterstattung anzuheizen. Allerdings darf im Fall des Hamburger Stadtduells Altonaer Fußball-Club von 1893 vs. SC Victoria Hamburg (1895 gegründet) wahrlich von Tradition gesprochen werden. Es ist das älteste deutsche Derby, das aktuell noch ausgespielt wird. Die ersten Duelle zwischen den Schwarz-Weiß-Roten aus Altona und den Blau-Gelben aus Hoheluft bereits am Ende des 19. Jahrhunderts. Und nicht nur das. Beide Vereine habe sehr traditionsreiche Spielstätten. So wurde das Stadion Hoheluft bereits im Jahr 1907 errichtet, ein Prachtstück ist die Haupttribüne, welche in den 1920er Jahren gebaut wurde. Das Stadion von Altona 93 - die Adolf-Jäger-Kampfbahn - existiert seit 1908 und gehört ebenfalls zu den ältesten Sportstätten Deutschlands. Der Zuschauerrekord wurde am 08. März 1953 beim Spiel gegen den Hamburger SV aufgestellt, die jetzige Haupttribüne wurde 1958 eröffnet. Da das Gelände verkauft wurde und der Abriss der Adolf-Jäger-Kampfbahn im Raum steht (geplant ist ein neues Stadion an anderer Stelle), sah es lange Zeit so aus, als könnte es das letzte Derby an diesem Ort sein. Nach Stand der Dinge wird Altona 93 allerdings auch kommende Saison an gleicher Stelle spielen.

AltonaAllerdings muss erst geschaut werden, in welcher Liga Altona 93 überhaupt spielen wird. Als einziger Verein der Oberliga Hamburg hatte Altona 93 die Unterlagen für die Regionalliga Nord eingereicht. Als sportliche Hürde muss die Aufstiegsrunde gemeistert werden. „Nie mehr Hamburgliga“ war gestern auf einem Flyer zu lesen, der an die Zuschauer verteilt wurde. „AFC-Regionalliga-Aufstiegstour-Tour 2016. Wir fahren mit dem Fanbus. 04./07. Juni 2016.“ Da Altona 93 als einziger Hamburger Oberligist aufsteigen möchte, ging es gestern gegen den Tabellendritten aus Hoheluft vor allem um die Ehre. Und das aber nicht zu knapp. Dass es bei diesem Derby durchaus hitzig zugehen kann, durfte im Februar 2015 festgestellt werden, als es im Stadion Hoheluft zu Auseinandersetzungen kam.

Altona 93Und gestern? Knapp 1.000 Zuschauer strömten auf die altehrwürdige Adolf-Jäger-Kampfbahn, doch von den Gästefans war - bis auf einzelne Personen - nichts zu sehen. Aus welchen Gründen auch immer blieben die aktiven Fans des SC Victoria dieses Mal dem Derby fern. Recht gute Stimmung herrschte trotzdem auf den Rängen. Nicht vergessen sollte man hierbei, dass es sich um ein Fünftligaspiel handelt. Allzu hoch sollte man deshalb die Maßlatte nicht ansetzen. Beachtlich war in jedem Fall die hohe Quote an Fußballfreunden, die Fanutensilien trugen. Von der Kutte bis zur gestrickten Mütze. Die Farben Schwarz, Weiß und Rot waren im Stadion reichlich vorhanden. „Auf zum Derby-Sieg“ war Weiß auf Rot im Block neben der Haupttribüne zu lesen. Dazu wehten die Fahnen und flog das abgeschossene Konfetti. Besonders voll war die Gegengerade, auf der oben zwischen aufgestellten Masten vier große Fahnen festgebunden wurden. „Hauptsache Bier“, „Unbekannter Affe“, „Black Bloc Altona“ und ein weiteres Banner mit einem roten Stern. 

AltonaHinter dem Tor hatten indes einige Hunde auf dem sogenannten „Zeckenhügel“ freien Lauf. Etliche Punks, zum Teil älteren Semesters, hatten dort ihre Stammplätze eingenommen. Unten an der Werbebande in erster Reihe fünf Fans mit wahrlich authentischem Outfit. Die Bierflaschen hatte man gleich mit hineingenommen. Als neutraler Beobachter, der aus Berlin angereist war, konnte man nur eins sagen: Klasse! Solch eine entspannte Atmosphäre hatte ich lange nicht mehr gesehen. Keine blöden Blicke. Kein Nörgeln, weil man Fotos anfertigte. Jeder konnte sich dort bewegen, wie er wollte. Von der schmuck gekleideten Hamburgerin, die auf Stöckelschuhen Pommes aß, bis hin zum abgeranzten Typen, der sich locker eine Jolle drehte. Der einzige, der maulte, war ein älterer Mann, der sich beschwerte, weil man am Imbisswagen zu lange vor der Milch stand. 

AltonaAnsonsten aber: Hamburg pur. Fußball in der Urform. In der Halbzeitpause, als im Vereinsheim ein Bier geschlürft wurde, erklärte mir doch glatt ein 80-jähriger Mann, der einst selbst als Linksaußen auf dem Rasen stand, mit deutlichen Worten, welche taktischen Fehler gemacht wurden. Und zwar sowohl zuvor beim Bundesligaduell Hamburger SV vs. SV Werder Bremen, als auch soeben beim Oberliga-Kick zwischen Altona 93 und „Vicky“. Immer wieder schüttelte er seinen Kopf und beklagte die fehlenden spielerischen Mittel. Dass damals langsamer Fußball gespielt wurde? Da könne er nur lachen! Ein Irrtum! Auch er sei die 100 Meter in 11,3 Sekunden gerannt! Brummelnd zog der Mann sich die schwarzen Lederhandschuhe über und ging wieder die Treppe hinauf zum Stadion.

AltonaIn der zweiten Halbzeit dürfte des alten Mannes Herzen ein wenig erwärmt worden sein, denn Altona 93 hielt hinten weiter dicht und erzielte in der 87. Minute das 1:0! Nachdem Nick Brisevac den Ball in den Strafraum gebracht hatte, machte der zuvor eingewechselte Ricardo Balzis den Treffer des Tages klar. Ein hübsches Tor, ein hübsch anzusehender Jubel auf dem Rasen und den Rängen. Nach dem Spiel hätte ich mich aber ansonsten nicht weiter mit dem alten Mann austauschen können, denn mein Blick haftete eher hier und dort als auf dem grünen Rasen. All die Details wurden aufgesaugt. Von der alten Sprecherkabine bis hin zu den alten Lautsprechern, die unter dem Dach der alten Haupttribüne befestigt sind. Ein Hingucker waren auch die Kids, die hinter dem anderen Tor wacker mit dem Ball bolzten - und das, obwohl zwischenzeitlich der Graupel nur so vom Himmel segelte. Gemütlich war das Wetter in der zweiten Halbzeit wahrlich nicht. Aber um so mehr wurde deutlich, wie grandios solch ein Spiel auf solch einer Spielstätte sein kann. Altona 93 konnte die knappe Führung über die restliche Zeit bringen, nach Abpfiff wurde der Derby-Sieg ausgiebig gefeiert.

AltonaFühlte sich dieses Oberligaspiel wie eine Reise in die Vergangenheit an, so wurde diese auf der Heimfahrt nach Berlin fortgesetzt. Dank des neu eingesetzten IRE der Deutschen Bahn kann man nun abends auch mit dem Wochenend-Ticket in einem Rutsch von Hamburg nach Berlin fahren. Nicht wenige nutzten diese geniale Möglichkeit und auf dem Bahnsteig kam gewisse Unruhe auf, als der Zug einrollte. Logisch, dass jeder ein Plätzchen haben wollte. Allerdings gab es keinen Grund zur Aufregung, der IRE hat eine stattliche Länge. Etliche einstige aufgemöbelte Interregio-Waggons wurden aneinandergekoppelt. Wer Lust hat, kann in einem Abteil Platz nehmen. Richtig old school mit herunterziehbaren Fenstern. Besser geht es nicht an solch einem Tag. Das eiskalte Bier für zwei Euro pro Flasche wurde mit einem Wägelchen sogar in (!) das Abteil geschoben. Und nachdem in Salzwedel noch eine weitere Person Platz in unserem Abteil nahm, war auch für Unterhaltung gesorgt. 

Altona 93Sein Witz des Tages soll den Abschluss dieses mal etwas locker flockiger gestalteten Berichtes sein: „Ging ein Hase in den Blumenladen. Haben Sie Veilchen? Nein, sagt die Verkäuferin. Macht nichts, komme ich am nächsten Tag wieder. Fragt der Hase am zweiten Tag wieder nach Veilchen. Sagt die Verkäuferin, nein haben wir nicht. Okay, kommt der Hase halt am nächsten Tag wieder. Haben sie heute Veilchen? Nein, haben wir nicht. Da rastet der Hase aus, springt über den Tresen und haut der Verkäuferin auf beide Augen. So, jetzt haben Sie zwei Veilchen!“ Ein leichtes Kichern, dann ein Schluck aus der Flasche. Die Luft strömte durch den Fensterschlitz. Tam-Tam, Tam-Tam. Schienengeräusche wie aus der guten alten Zeit ertönten. Perfekt! Die nächste Fahrt nach Hamburg ruft. Dann Altona 93 gegen den VfB Lübeck, den SV Meppen oder den VfB Oldenburg in den Regionalliga Nord? Mal sehen… Schön wär´s!

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Altona 93

Artikel wurde veröffentlicht am
25 April 2016
Spielergebnis:
1:0
Zuschauerzahl:
1.000

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Benutzer-Kommentare

5 Kommentare
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Danke für den tollen Bericht über meinen/unseren Verein. Komme bald wieder...
A
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Wer länger nicht auf der AJK war, muss nur diesen lesenswerten Bericht inhalieren und wird sofort in die "alte" Zeit zurück versetzt. Und das Schöne ist, auch jetzt ist immer noch jedes Spiel ein Besuch wert und solange das Stadion bespielbar ist, sollte jeder Interessierte diese Chance nutzen!!
T
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A
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Erinnert ein bisschen an den FC United of Manchester. Die Farben, die lockere Atmosphäre, die Einstellung zum Fußball. Gefällt mir!
K
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G
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