Stimmungsvolles Drama in 5 Toren: Pogoń vs. Ruch am Montag ersetzt den Jauch

M Updated 09 März 2016
Stimmungsvolles Drama in 5 Toren: Pogoń vs. Ruch am Montag ersetzt den Jauch

PogonPogoń Szczecin gegen Ruch Chorzow hieß das Montagsspiel in der Ekstraklasa, also ein wahrer Klassiker. Da werden beim Lesen der Ansetzung einige Erinnerungen wach. Ruch war damals der Halbfinalgegner Pogońs im Pokal. Die Atmosphäre war beeindruckend und das Spiel spannend bis zur letzten Sekunde. Pogoń unterlag später im Finale gegen Jagiellonia. In der ersten Ekstraklasa-Saison fiel die Begegnung mit Ruch in die Zeit, als die Pogoń-Ultras Młode Wilki 03 aufgrund von Stadionverboten ihre Aktivitäten zwischenzeitlich einstellen mussten. Die Stadtteil-Gruppe śródmiejsce übernahm das Kurvengeschehen. Heute fehlen die Młode Wilki auch und sie werden auch nicht mehr zurückkehren. Ihre Aktivitäten sind dennoch weiterhin im Stadtbild zu sehen. Ein „Tylko Pogoń“ verziert die ehemals kahle Wand einer Döner-Bude unweit des Stadions. Unterschrieben wurde mit MW03.

ChorzowDie Zeiten haben sich bei Pogoń auch sportlich geändert. In der ersten Saison nach der Rückkehr in die Ekstraklasa drohte wieder der Abstieg. Bei der Niederlage gegen Bełchatow sangen die Fans: „So, wie ihr spielt, schändet ihr unser Pogoń!“ Mittlerweile führt ein Chemie-Konzern Pogoń viele Gelder zu und die Stettiner finden sich in höheren Tabellenregionen wieder. Dagegen streiten sich Zabrze, Wrocław und Wisła Kraków um den Abstieg. Verkehrte Welt. Politisch geht es wieder gemäßigter zu. Das erkennt man sofort am Drehkreuz. Die Monitore für die Gesichtsüberprüfung (!) wurden entfernt. Früher war es manchmal gar nicht möglich eine Person mit einer anderen Fancard ins Stadion zu bringen. Es hing vom Ordner ab, ob man mit einer anderen Karte ins Stadion gelassen wurde. Dieser verglich das Gesicht auf der Karte mit dem Gesicht am Eingang. Seit dem Regierungswechsel sind die Fotos auf Fancards wieder Geschichte. Das dazugehörige Gesetz wird wohl komplett ausgeschaltet werden.  Die Mannschaften laufen auf und der Pogoń-Fanblock singt ein Lied gegen die Polizei und ruft „Fußball für die Fans“. Daran wird sich wahrscheinlich nie etwas ändern. Auf der anderen Seite stehen 240 Fans aus Chorzów und Łódz. Ruch dürfte heute eigentlich gar nicht anwesend sein. Sie müssen eigentlich wegen einer Strafe aus dem Spiel gegen Wisła Kraków bis zum Saisonende aussetzen. Ganz offen wurde sich im Internet angekündigt. Am Zaun zeigten sie sogar zwei Fahnen. Es scheint, dass es wieder etwas lockerer zugeht. 

PogonMan merkt es nicht nur dort. Während vor kurzer Zeit noch der Stadionsprecher bei kritischen Gesängen und Rufen unter der Gürtellinie zu Ordnung ermahnte, fehlten diese Ansagen heut gänzlich. Der Schiedsrichter pfiff zwei Elfmeter und stellte den Pogoń-Torwart wegen einer Notbremse vom Platz. Das Publikum auf der Tribüne war aufgebracht und beschimpfte Verband und den Schiedsrichter selbst. Keine Ansage. Ruch pöbelt plötzlich aus heiterem Himmel gegen Pogoń. Keine Ermahnung. Was ist nur los in Polen? Das soll eine Diktatur sein? Der eine Elfmeter war übrigens der Wendepunkt im Spiel. Doch dazu später mehr. Es fehlen noch ein paar Worte zur Atmosphäre. Pogoń sammelte sich mit 500 relativ jungen Fans in der Kurve hinter einigen alten Fahnen. Über ihnen wehte die „Brygada Ultras“. An Fanclub-Fahnen war nur Drawsko Pomorskie anwesend. Auf der Tribüne saßen aber ein paar Leute aus Stargard und Gryfino. Die Tribüne fungiert irgendwie als zweiter und mächtigerer Stimmungsblock. Die jungen Fans in der Kurve sorgten bereits dafür, dass die wenigen Rufe von Ruch kaum auf der anderen Seite ankamen. Bei Aktivierung der Tribüne wurde Ruch komplett auf stumm geschaltet. Wechselgesänge zwischen Kurve und Tribüne klappten super, wie z.B. dieses: „Oh mein MKS, ich liebe dich! Andere haben dich verraten – sie liebten Lech, aber ich nicht! Und wie mich einer "Du Stettiner Hund!" ruft, schlage ich dem Rüpel ins Gesicht. Geliebtes Pogoń, ich liebe dich!“ Ruch blieb die komplette erste Hälfte bis auf ein „Ruch, Ruch, HKS“ stumm. 

PogonIn der zweiten Hälfte rückten sie alle zusammen und sangen ein wenig. „Hej, ihr Blauen ole, hier Blauen ole, Ruch Chorzów aeao!“ das Highlight. Natürlich wurden auch die Freunde aus Łódz gegrüßt, was Pogoń gar nicht interessierte. Aus der Masse rief nur eine einzelne Stimme den alten Schmähruf „Widzew, Widzew, Lodzscher Widzew, ich diese Hure hasse“. Früher hätte das ganze Stadion dieses gebrüllt plus weiterer Evergreens gegen Widzew. Für ein normales Montag-Spiel, bei dem der Gast noch ein offizielles Verbot hatte, war die Stimmung sehr gut. Das Spiel half dabei, dass die Stimmung über 90 Minuten auf diesem guten Niveau blieb. Akahoshi eröffnete den Torreigen in der 4. Minute. Ein Eigentor vier Minuten später ließ Ruch mal kurz jubeln. Nach einer halben ist es wieder der Japaner. Pogoń machte Dampf, aber keine weiteren Tore. Schon nach dem verschossenen Elfer in der 59. Minute (gegen den Pfosten) rief die Kurve, dass endlich das dritte Tor fallen muss. Es fiel aber nur der Ruch-Stürmer, der vom Schlussmann gebremst wurde. Rote Karte und der Elfer saß in der 77. Spielminute. 

Das war der Knackpunkt. Lipskis zweiter Treffer in der 84. Minute perfektionierte die Tragödie. Die Kurve leerte sich blitzschnell. Die Spieler trafen dort keine Leute mehr an. Nur die Tribüne blieb stehen und sang aufmunternd: „Ob du gewinnst oder nicht, ich liebe dich so sehr. In meinem Herzen ist Pogoń im Guten und im Schlechten!“. Sehr lange kann Ruch nicht gefeiert haben. Als ich nach einem kurzen Tank-Stop in Szczecin und nach zwei durch Polizisten gesperrte Kreisverkehre hinter mir ein Meer von Blaulicht sah, wurde ich in der nächsten Minute von ca. 45 Autos und vielen weiteren Polizei-Autos überho(o)lt. Der Anblick hatte irgendwie was. Schade, dass für einen Überblick kein Berg in der Nähe war. Das Alternativ-Programm zu RTLs Jauch hat sich jedenfalls gelohnt. Die Zuschauerzahl lag übrigens bei 4345 – Klasse statt Masse.

Fotos: Michael

> zur turus-Fotostrecke: MKS Pogon Szczecin

Inhalt über Klub(s):
Artikel wurde veröffentlicht am
08 März 2016
Spielergebnis:
2:3
Zuschauerzahl:
4.345
Gästefans
240

Benutzer-Kommentare

3 Kommentare
Hast du schon ein Konto?
Datenschutz
Durch das Anhaken der folgenden Checkbox und des Buttons "Absenden" erlaube ich turus.net die Speicherung meiner oben eingegeben Daten:
Um eine Übersicht über die Kommentare / Bewertungen zu erhalten und Missbrauch zu vermeiden wird auf turus.net der Inhalt der Felder "Name", "Titel" "Kommentartext" (alles keine Pflichtfelder / also nur wenn angegeben), die Bewertung sowie Deine IP-Adresse und Zeitstempel Deines Kommentars gespeichert. Du kannst die Speicherung Deines Kommentars jederzeit widerrufen. Schreibe uns einfach eine E-Mail: "kommentar / at / turus.net". Mehr Informationen welche personenbezogenen Daten gespeichert werden, findest Du in unserer Datenschutzerklärung.
Ich stimme der Speicherung meiner personenbezogenen Daten zu:
Kommentare
Bitte in Zukunft mehr solcher tief blickenden Berichte über den polnischen Fußball. Ich lese echt zu wenig drüber was in den Kurven alles gesungen wird. Auch möchte ich manch eine Choreo besser verstehen. Die zuletzt bei Slask in Breslau zum Beispiel Die sah geil aus und ich ahne worum es geht. Aber sicherlich steckt mehr drin als ich vermute.

VG Rolfi
R
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 0 0
Ich war echt überrascht, dass die Stimmung meiner Meinung nach so gut war - und das nach MD-HRO am Samstag....

Viele, die mal in der Kurve standen, sind jetzt auf der Tribüne. Auch ohne koordinierten Support stellten die damals gegen Werder ein vernünftiges Programm auf die Beine.

Interessant die Eskorte nach dem Spiel. Anscheinend durften die nicht mit Bussen fahren. Dann liefe es ja wieder unter organisierter Fahrt, was ja Ruch verboten worden war.
Unter den Autos waren auch zahlreiche aus Lodz. Sicherlich ein schönes Sortieren, wenn sich die Strecken gen Süden und Osten teilen.
M
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 0 0
Die Heimkurve sah ja weiß Gott auch mal anders aus. Aber das hat bekanntlich seine Gründe. Aber so lange das sich noch mit dem Satz "Die Zuschauerzahl lag übrigens bei 4345 – Klasse statt Masse." zusammenfassen lässt, gilt: Noch ist Polen nicht verloren...

Karlo
K
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 0 0