Chemnitzer Boykott nach Niederlage gegen Aue: Fußball im Bezirk Karl-Marx-Stadt

CFC„Kein Wir ohne Leistung“ war im zentralen Bereich des Fanblocks der Chemnitzer beim Heimspiel gegen den SC Fortuna Köln zu lesen. Die unteren Stufen blieben fast komplett frei, einen organisierten Support in gewohnter Form wird es voraussichtlich bis ins Jahr 2016 hinein nicht geben. „Keine Leistung, keine Fans“, hatte jemand das Ganze Blau auf Weiß auf einem angebrachten Tuch auf den Punkt gebracht. Das Echo außerhalb von Chemnitz ließ nicht lange auf sich warten. Rang acht in der 3. Liga? Das Spiel gegen Fortuna Köln gedreht? Die sportliche Lage könnte doch weitaus dramatischer sein, oder nicht?! „Lächerlich, diese Fans!“, kommentierte jemand das Foto vom Spruchband. Als Fan müsse man immer zu seiner Mannschaft stehen. Das sei ein reines Erfolgsfangetue, meinte jemand anders. Kurzum: Für viele ist die Boykott-Aktion - so schmerzlich die Derby-Niederlage gegen Aue auch sein mag - völlig unverständlich.

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KMSAllerdings betonten etliche Chemnitzer noch einmal, wie extrem wichtig das Duell gegen den Rivalen aus dem Schacht ist. Chemnitz / Karl-Marx-Stadt und Aue. Das ist eine Rivalität, die man mit Worten nicht beschreiben kann. Ein Bezirks-Duell seit den 1950ern, da wüsste man selbst in Dresden nicht, was dies bedeute. Ein Bezirks-Duell! Um das zu verstehen, muss man sich die Geschichte des DDR-Fußballs anschauen. Im Zuge der Verwaltungsreform wurden in der DDR im Jahr 1952 insgesamt 14 Bezirke eingerichtet: Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Potsdam, Frankfurt / Oder, Cottbus, Dresden, Magdeburg, Halle, Leipzig, Erfurt, Gera, Suhl und Karl-Marx-Stadt (bis 1953 und ab 1990 Chemnitz). Dazu Ost-Berlin mit einem Sonderstatus. Betrachtet man die Oberliga-Landschaft, so kann man feststellen, dass es in den meisten Bezirken meist einen bedeutenden Verein gab. Echte Derbys gab es in den 60ern, 70ern und 80ern nur in Ost-Berlin und Leipzig. Dazu gab es einen Bezirk, der gleich drei Oberligisten hatte: Im Bezirk Karl-Marx-Stadt rangelten mit der BSG Sachsenring Zwickau, der BSG Wismut Aue und dem FC Karl-Marx-Stadt gleich drei bekannte Vereine um die Nummer eins.

AueIm Fall FC Karl-Marx-Stadt und BSG Wismut Aue gibt es zudem eine weitere wichtige Komponente. Die am 24. September 1949 gegründete BSG Wismut Aue wurde am 13. November 1954 in SC Wismut Karl-Marx-Stadt umbenannt. Als neue Sportclubsektion sollte der SC Wismut in der Bezirkshauptstadt eine feste Größe werden. Der spätere FC-Karl-Marx-Stadt / Chemnitzer FC trat Anfang der 50er indes als BSG Fewa Chemnitz / Chemie Chemnitz / Chemie Karl-Marx-Stadt an. Mit der Wismut als Träger hätte sich der SC Wismut Karl-Marx-Stadt ganz klar zur Nummer eins in der Stadt entwickelt, denn der Erfolg stellte sich ab 1954 sofort ein. Der FDGB-Pokal und Meistertitel wurden eingefahren. Allerdings trug der SC Wismut Karl-Marx-Stadt seine Heimspiele weiterhin in Aue aus. Zu groß war der dortige Protest, als bekannt wurde, dass der bereits lieb gewonnene Verein umziehen soll. 

ChemnitzBeim heutigen Chemnitzer FC übernahm das Schwermaschinenwerk „Fritz Heckert“ die Trägerschaft, seit März 1956 trug der Verein den Namen SC Motor Karl-Marx-Stadt. Vom Namen her gab es in den 50ern und Anfang der 60er somit echte Karl-Marx-Stadt-Duelle, allerdings spielte der SC Wismut wie erwähnt weiterhin in Aue. Die Situation im Jahr 1957: Der SC Wismut wurde DDR-Meister, der SC Motor stieg als Tabellenletzter ab. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie froh man in Karl-Marx-Stadt war, als ab dem 1. Juli 1963 der SC Wismut Karl-Marx-Stadt endlich wieder unter dem Namen BSG Wismut Aue spielte und dem SC (Motor) Karl-Marx-Stadt in der Bezirkshauptstadt den Weg freimachte.

FCKNach der Herauslösung der Fußball-Sektionen aus den Sportclubs ging ab dem 15. Januar 1966 der FC Karl-Marx-Stadt ins Rennen und rangelte mit dem FC Erzgebirge Aue und der BSG Sachsenring Zwickau um die sportliche Macht im damaligen Bezirk. Ganz klar, was aus heutiger Sicht nach einem eher normalen Drittliga-Derby im Schatten der großen Ostduelle 1. FC Magdeburg vs. SG Dynamo Dresden oder F.C. Hansa Rostock vs. SG Dynamo Dresden wirkt, hat weitaus mehr historische Brisanz als man Außenstehender auf dem ersten Blick vermuten würde. Dass Feindbilder, Rivalität und Hassgefühle von Generation zu Generation getragen werden, muss dem Fußballinteressierten ja nicht weiter erklärt werden. Aus diesem Grund meinten nicht wenige vor der laufenden Drittligasaison, die ja auch gern „DDR-Oberliga 2.0“ genannt wird, dass das Duell Chemnitz vs. Aue DAS Duell der Saison wird. Und auch die himmelblauen Anhänger machten der Mannschaft bereits Wochen vor dem Derby klar: Alles schön und gut, doch das einzige was in dieser Saison zählt, sind die Siege gegen den verhassten Rivalen aus dem Schacht.

cfcDie Niederlage im Landespokal in Dresden? Bitter, aber letztendlich aufgrund der derzeitigen sportlichen Dominanz der Sportgemeinschaft zu verschmerzen. Der Auftritt bei der U23 des SV Werder Bremen? Übel, ärgerlich, aber am Ende halt ein Ausrutscher. Das 1:2 gegen Erzgebirge Aue? Nicht zu entschuldigen. Der Grund: Die Einstellung der Mannschaft hatte nicht gestimmt. Das Spiel des Chemnitzer FC sei sehr larifari gewesen, erklärte ein Fan. Pech, dumme Schiedsrichterentscheidungen, unglückliche Niederlagen - das kann alles passieren. Aber bei einem Duell, das einst bereits vor 60 Jahren als SC Motor Karl-Marx-Stadt vs. SC Wismut Karl-Marx-Stadt für mächtig Furore gesorgt hatte, müssen halt 100 Prozent Einsatz gezeigt werden. Und da es diese nicht gab, gibt es nun den Boykott der aktiven Fanszene.

Fotos: Marcus Hengst, Arne Amberg

Anmerkung: Auf dem Foto ist das Sportforum Chemnitz, dort trug der FC-Karl-Marx-Stadt teilweise seine EC-Spiele aus.

> zur turus-Fotostrecke: Chemnitzer FC

> zur turus-Fotostrecke: FC Erzgebirge Aue

Artikel wurde veröffentlicht am
23 November 2015

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4 Kommentare
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Kommentare
Artikel im Kern gut - obwohl mit kleinen Fehlern. Die Sargstory von 1970 (Spiel fand in Halle/Sa. statt...) hätte noch mit rein gemußt.
Derby-Bilanz mit Klassen Zugehörigkeit
2 Spiele | DS-Liga 1950/51
61 Spiele | Oberliga 1954-1990
6 Spiele | Regionalliga Nordost 1996-1999
4 Spiele | Regionalliga Nord 2001-2003
1 Spiele | 3. Liga 2015
2 Spiele | Sachsen Pokal 1998 + 2010
4 Spiele | FDGB-Pokal 1954 + 1968 + 1982 + 1989
3 Spiele | diverse andere Pokalspiele (Olympia-, Fuwo- und DFV Sonderpokal)
Gesamtspiele = 83 (Stand November 2015)

In 38 gemeinsamen Spielzeiten (inkl. 2015/16 und der OL-Übergangsrunde im Herbst 1955) spielten beide Vereine in einer Liga.
28 Serien gingen sich beide sportlich aus dem Weg. Mal war Aue höherklassiger (satte 20 Spielzeiten...), mal waren es die Chemnitzer die ligatechnisch über den Konkurrenten aus dem Tal spielten. Dies war aber nur 8mal der Fall (1990/91, 1991/92, 1992/93, 1993/94, 1994/95, 1995/96 + 1999/00, 2000/01)

in 20 Spielzeiten waren die Auer woanders unterwegs, oder anders ausgedrückt höherklassiger.
in 8 Spielzeiten waren die Chemnitzer höherklassiger als die Auer (1990/91, 1991/92, 1992/93, 1993/94, 1994/95, 1995/96 + 1999/00, 2000/01)
WA
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G
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Wird man dennoch nächste Woche nach OS reisen?
E
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Gut recherchiert. Hinzu kommt noch, dass die Schachter (a*e spricht/schreibt kein chemnitzer aus) nach unserem damaligen Abstieg aus der DDR Oberliga 1970, welcher ausgerechnet nach dem letzten Heimspiel der Saison, welches gegen a*e verloren wurde!, mit einem Sarg durch unsere Stadt gelaufen sind. Ebenso hat es zu DDR zeiten nach so ziemlich jedem Derby zwischen dem Schacht und Karl-Marx-Stadt geknallt.
D
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