Japanischer Zweitligakrimi in der Kaiserstadt: Kyoto Sanga vs. JEF United Chiba

CS Updated 23 September 2014
Japanischer Zweitligakrimi in der Kaiserstadt: Kyoto Sanga vs. JEF United Chiba

KyotoKyoto. Kaiserstadt, kulturelles Zentrum Japans, Herberge hunderter buddhistischer Tempel und Shintō-Schreine sowie zahlreicher Paläste und Zen-Gärten. So wurde Kyoto als einzige Stadt während des Zweiten Weltkrieges aus Respekt nicht bombardiert. Viele Bauwerke sind heutzutage UNESCO-Weltkulturerbe, was einer der Gründe ist, wieso diese Stadt eines der beliebtesten japanischen Touristenziele ist. Überraschenderweise ist Kyoto bis heute nicht wie viele andere asiatische Großstädte dem Hochhaus- und Wolkenkratzerbauwahn zum Opfer gefallen, so dass man auf eine recht ursprüngliche historisch-kulturelle Entdeckungstour gehen kann.

KyotoAll diese Attribute sind jedoch nur ein schmückendes Beiwerk für einen neugierigen Fußballinteressierten. Und auch hier bietet Kyoto ein kleines Schmankerl - „Kyoto Sanga F.C.“, Japans mit Abstand ältester Profiverein. Und so kam es, wie es kommen musste: Die städtische Erkundigungen mündeten schlussendlich in dem Besuch des Nishikyōgoku Athletic Stadium zum Spiel des Achtplatzierten gegen den direkten Tabellennachbarn „JEF United Chiba“ (7.) in der zweiten Japanischen Liga („J.League 2“).

Besonders erwähnenswert ist der Fakt, dass es sich bei diesem 1922 gegründeten Verein um einen der Wenigen handelt, die nicht wie in der japanischen Liga üblich aus einer Werkself, sondern atypisch aus einer Hochschulmannschaft hervorgegangen sind. Nachdem sich kurz belesen wurde, ging es dann an einem Samstagnachmittag mit dem Bus und der Hoffnung, dass es bald aufhören würde zu regnen, zum Stadion. Bei circa zwölf Litern die Stunde, die der Himmel über Kyoto auskippte, wünschten sich selbst sonst recht hartgesottene Fußballpilger insgeheim ein Stadiondach. Wir wurden übrigens eines Besseren belehrt: Nein zum Dach, Ja zum Dauerregen.

KyotoAm Stadionvorplatz waren Zelte aufgebaut, welche die Kassen, den Fanshop und Imbissstände beherbergten. Es hatte einen recht provisorischen aber doch charmanten Eindruck, was eher ein wenig an frühere Jugendfußballturniere des kleinen Bruders als an ein offizielles Erwachsenenligaspiel erinnerte. Für, ich glaube, circa 1600 Yen (umgerechnet ungefähr 12,50 EUR) ergatterten wir Tickets für Block 5, welcher der der Ultras war. Durch einen Zeltvorbau abgetrennt durch ein paar aufgestellte hüfthohe Metallgitter kamen wir dann ohne Abtasten und Taschenkontrolle ins Stadion. Auf dem Weg dahin wurde uns auch noch ein gefaltetes Programmpapier (Stadionheft konnte man dies wirklich nicht nennen, eher ein auf Hochglanz gedrucktes Informationsblatt) mitgegeben.

KyotoLila Overalls mit Regencapes darüber und durchnässte Blockfahnen bestimmten das Bild [Notiz an die Autorin: Ein orangefarbenes T-Shirt und roter Regenschirm bildeten einen tollen aber doch irgendwie unpassenden Kontrast.]. Den Kyoteranern [Anm. d. Red.: Es werden äußerst gern Hinweise angenommen, wie die Einwohner Kyotos exakt heißen] machte die tropenartige Nässe rein gar nichts aus. Sie sangen, klatschten und hüpften. Tröten und andere Instrumente sowie Konfetti und Pyrotechnik suchte man hier vergebens, dafür gab es aber mehrere Trommler und Capos, so dass fast vor jedem Block ein separat eingeheizt wurde. Die Melodien kamen einem trotzdem ein wenig bekannt vor, so dass man getrost mitmurmeln bzw. –singen konnte, indem man einfach den Namen seines bevorzugten Vereins einsetzte.

Nun war es an der Zeit, einmal im Informationsblatt zum heutigen Spiel zu schmökern. Laut Titelblatt handelte es sich beim Gegner um JEF United Chiba. Soweit stimmten die Informationen schon einmal. Um weitere Details lesen zu können, reichte der Wortschatz von „Konnichiwa“ (Hallo), „Sayounara“ (Auf Wiedersehen), „Hai“ (Ja), „Arigatou“ (Danke) und „Kanpai“ (Prost) leider überhaupt nicht aus. Es war alles in Japanisch. Das Entziffern der Tabelle gelang uns dank arabischer Zahlen und farblichen Hervorhebens teilweise. Es war wohl wirklich ein Aufeinandertreffen direkter Tabellennachbarn:

Tabellenkopf mit diversen japanischen Buchstaben
1. Clubname in diversen japanischen Buchstaben 76 Punkte
7. JEF United Chiba (in Japanisch, gelb markiert) 43 Punkte
8. Kyoto Sanga F.C. (in Japanisch, lila markiert) 41 Punkte

JapanNach ein bisschen Bildergucken und Überfliegen der Sponsorenlogos (Kyocera und Nintendo – übrigens ein Unternehmen, welches 1889 als Spielkartenhersteller in Kyoto gegründet wurde – waren die einzig lesbaren Hauptsponsoren) hatte sich unser investigatives Potential erschöpft. Die Anzeigetafel half uns auch nicht sonderlich weiter, außer dass wir Spielernummern, die Zeit und den Stand ablesen konnten. Immerhin! Wir glauben auch, vernommen zu haben, dass etwas mehr als 6800 Zuschauer im Stadion waren.

Anzumerken sei auch hier, dass – getreu dem Motto „Besser spät als nie“ – die Weiten des Internets im Nachhinein geholfen haben. Der oben vor Ort Enigma-mäßig entschlüsselte Tabellenstand stellte sich als richtig heraus. Es handelte sich übrigens um den des 29. Spieltages (von insgesamt 41). Erster war (und ist momentan) übrigens Shonan Bellmare. Wieder was gelernt!

Da wir recht spät dran waren, kann über die erste Halbzeit nur gesagt werden, dass diese mit 1:0 für die Gäste endete und sich auch der Gästeblock akustisch nicht zu verstecken brauchte. Unwissend, dass sich dies in der zweiten Halbzeit radikal ändern würde, erkundeten wir die Zeltbuden auf dem Stadionsvorplatz. Als erstes wurde der Fanshop angestrebt. Eine Leinwand aller Spieler- und Trainerportraits Kyotos mit Unterschriften hing an einer Seite des Zeltes und war (natürlich) ein heiß begehrtes Fotomotiv.

KyotoIm „Shop“ gab es das, was wohl das Kyotofanherz begehrte. So kam es, wie es kommen musste: Ein Jahrbuch der Saison 2014 (auch alles in japanisch aber viel mehr Bilder), ein T-Shirt mit einem fußballspielenden Snoopy, Sanga-Schriftzug und der Rückennummer 12 sowie ein Schal mit der Aufschrift „Pride of Kyoto“ fanden den Weg in meinen imaginären Einkaufswagen. Der Fanschal war aber nicht aus Wolle sondern aus Frottee, was bei diesem Wetter auch vollends Sinn ergab. So wird dieser von den Schwüle-und-Regen-gewohnten japanischen Fans einfach auch als Handtuch benutzt. Da wir satt waren, kosteten wir uns nicht durch die geheimnisvollen Garküchen aber sehr wohl das japanische Bier.

Pünktlich zum Anpfiff schlichen wir uns tiefer hinein in die lilafarbene durchnässte Ultramenge und erlebten einen faszinierenden japanischen Zweitligakrimi, in dem das Spiel noch zweimal gedreht werden sollte. Die genauen Spielminuten lassen sich leider nicht mehr rekapitulieren, aber zu Beginn der Nachspielzeit stand es 2:3, wobei der Spielverlauf mit 1:1, 2:1, dann 2:2 und schlussendlich 2:3 am besten beschrieben ist. Es war ein munteres Spielchen mit vielen gefährlichen Strafraumszenen. Es wurde jedoch auch oft deutlich, wie rutschig der Rasen war. So ist diese Liga aber bei Weitem nicht mit unserer zweiten Liga zu vergleichen, die vielen Tore und die Fangesänge machten die fehlende Qualität aber mehr als wett. Zusätzlich zum Wasser von oben war es bei den Fans beispielsweise auch Gang und Gebe, in ihrem Jubel Wasser aus Flaschen zu versprühen (was bei uns wohl am ehesten als Bierdusche vonstatten gehen würde). Sie bekämpften quasi Feuer mit Feuer.

KyotoAus purer Neugierde zeichnete ich die Endphase des Spiels auf und war vom Glück geküsst. So kann jetzt ein Video der gesamten Nachspielzeit bezeugen, wie die Fans ihr zurückliegendes Team noch einmal anfeuerten, wie sich anscheinend überall auf der Welt über Schiedsrichterentscheidungen, Fouls und Zeitschinden aufgeregt wird und wie viel Freude ein Ausgleichtreffer bereiten kann. Des Weiteren kann man natürlich auch das Fußballspiel und Anstürmen aufs gegnerische Tor sehen. Zugegebenermaßen waren die Eindrücke aber so vielfältig, dass das eigentliche Spiel doch minimal in den Hintergrund gerückt ist.

KyotoNach dem Abpfiff klatschten sich die Teams alle ab und dann ging es zur obligatorischen Stadionrunde. Hierbei wird sich aber vor jedem Block lediglich verbeugt. Das einzige Abklatschen fand zwischen den zwei Maskottchen und den Fans statt. Und die Höflichkeit riss auch nach dem Spiel nicht ab. So räumten alle Fans den Müll in ihren Blöcken weg. Sie haben eigens dafür Plastiktüten mitgebracht, welche sie dann beim Rausgehen am Ausgang stapeln. Der Wahnsinn! Die Ultras räumten dann zusätzlich dazu noch ihre Zaunbanner und Fahnen zusammen. Während ich von der Aufräumaktion Fotos machte, da ich es kaum glauben konnte, fiel ich ihnen logischerweise auf. Nach einer kurzen Kommunikation mit Hand und Fuß, in dem ich ihren Verein lobte, schenkten sie mir auch noch ein triefnasses Fähnchen, welches erst vor Kurzen anlässlich des 20. Vereinsjubiläums (Neugründung des Vereins als AG im Jahr 1994) ausgegeben wurde. Ich war stolz wie Bolle!

Beim Hinausgehen konnte ich auf dem Shirt eines Capos einen Satz lesen, welcher die Atmosphäre, die für japanische Verhältnisse wohl durchaus als leidenschaftlich und euphorisch tituliert werden kann, vielleicht am trefflichsten beschrieb: „Once a purple always a purple“.

Text & Fotos: Carena S.

> zur turus-Fotostrecke: Fußball in Japan

Artikel wurde veröffentlicht am
17 September 2014

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Sehr schön geschriebener Artikel.
M
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G
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A
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