Crystal Palace vs. Bolton Wanderers: Ultras in England, es gibt sie doch!

Hot
F Updated

Ultras in LondonBei Fußballspielen in London habe ich in den letzten Jahren Enttäuschungen in verschiedener Ausführung erlebt, die alle mehr oder weniger darauf hinausliefen, dass es keinen durchgängigen bzw. organisierten Support gab. Spontane (und durchaus kreative) gemeinsame 10-sekündige Zwischenrufe sind das höchste der Gefühle, die Stimmung hängt oft einzig vom Spielverlauf ab. Dennoch habe ich die Hoffnung nie aufgegeben, eines Tages positiv überrascht zu werden. Dieser Tag war heute.

Zwei Faktoren haben mir dieses Erlebnis ermöglicht: Einerseits die gute Organisation des Clubs Crystal Palace, der den Rasen abgedeckt, beheizt und mit vielen Helfern den Schnee geräumt hat, der am Vortag noch die gesamte Hauptstadt ins Chaos gestürzt hatte. Während ich also aus dem Zug schneebedeckte Fußballfelder vorbeiziehen sehe, auf denen Schneemänner die Tore hüten,  kommt im Selhurst Park grüner Rasen unter der Plane zum Vorschein.

Selhurst 2005Der zweite Faktor hatte 2005 seine Geburtsstunde: Sechs treue Palace-Fans waren unzufrieden mit dem Niedergang der englischen Fußballkultur, mit ihren Sitzplatzarenen und Ticketpreisen die jüngeren Generationen den Stadionbesuch unmöglich machen. Mit dem stimmungs- und seelenlosen Status Quo wollten sie sich nicht abfinden, und so gründeten sie die „Holmesdale Fanatics“ die heute etwa 150 Mitglieder im Alter von etwa 17-35 haben. Sie unterstützen ihr Team im Ultra-Stil mit Bannern und Fahnen, es gibt bisweilen sogar Choreographien die die gesamte Tribüne abdecken. Ihre Gesänge werden von vielen Fans im „Holmesdale Stand“ (hinter einem der Tore) mitgesungen und verbreiten sich bisweilen im ganzen Stadion.

Im Pub mit den „Holmesdale Fanatics“

Ich treffe die Jungs vor dem Spiel in ihrem Pub in Stadionnähe und werde von allen freundlich aufgenommen, die Atmosphäre ist gesprächig, entspannt und gemeinschaftlich. Die „Fanatics“ erzählen, dass ihr Erscheinen ein Schock war für die normierte und eingeschlafene Fankultur Englands. Plötzlich stand da eine ganze Ansammlung von Menschen im Stadion, sang das gesamte Spiel über „und brachte auch noch Trommeln mit!“ Der Club reagierte ablehnend, in der Anfangszeit wurden Kernmitglieder der Gruppe regelmäßig des Stadions verwiesen und gab es immer wieder neue Einschränkungen. 

UltrasAuch die Staatsmacht hat ein Auge auf die Gruppierung geworfen: als die Jungs mir erzählen, dass die Polizei jedes Mitglied namentlich kennt, spaziert prompt ein Beamter in den Pub und schaut sich gründlich jeden Gast an. England ist ohnehin sehr restriktiv, die stimmungsfeindlichen Regeln rund um den Stadionbesuch wurden alle im Namen der „eigenen Sicherheit“ aufgestellt, mangels Kreativität und Willen zu fanfreundlicher Alternativen (vermutlich wäre an dieser Stelle ein „währet den Anfängen“-Verweis auf das DFL Sicherheitspapier und die erfolgreichen Proteste gegen dessen ursprüngliche Ausführung angebracht).

Verein und „Fanatics“ leben mittlerweile in einem ambivalenten Verhältnis zueinander: in England gibt es so gut wie keine Beziehung zwischen Spielern und Fans, die „Fanatics“ bemühen sich, diesen Graben zu überbrücken. Sie verleihen z.B. einen Preis an den „Spieler des Jahres“, der diesen im Pub entgegennimmt und dann den Abend mit der Gruppe verbringt. Der Verein fürchtet jedoch, Einfluss zu verlieren und greift zu subtilen Mitteln: die Spieler wärmen sich beispielsweise nicht mehr wie gehabt vor dem „Holmesdale Stand“ auf. 

OrdnerIn der Anfangszeit der „Fanatics“ gab es nicht selten Aggressionen seitens der Ordner, einer der leitenden Ordner meldete sich sogar im Forum an und stachelte (vermeintlich) anonym zu Prügeleien mit dem Ordnungsdienst an – vergebens. Die „Fanatics“ konnten das nachweisen, der Club kündigte dem Ordner. Diese Anekdote zeigt, dass sie nie aufgegeben und sich Schritt für Schritt festgesetzt haben. Mittlerweile darf die Gruppe sogar ihren Merchandise auf der Rückseite der eigenen Tribüne verkaufen.

Es war kein Zufall, dass es so lange gedauert hat, bis ich eine Ultra-Gruppierung in England gefunden habe. Denn die „Holmesdale Fanatics“ sind mehr oder weniger die einzige. Oder zumindest die einzige, die in diesem Umfang im Stadion sicht- und hörbar ist. Fans anderer Vereine haben es versucht, wollten dabei aber die kontinentaleuropäische Ultrakultur übernehmen. Das hat in den Stadien zu Ablehnung geführt, ein klassischer „not invented here“ Effekt. In Süd-London wird statt unreflektiertem Import hingegen großer Wert auf die eigenen Wurzeln gelegt, die sogenannte „casual culture“ der 80er Jahre, die auch eng mit der Pub-Kultur verbunden ist. Aber es schlägt sich natürlich auch im Liedgut wieder, welches die „Fanatics“ regelmäßig erweitern.

Auf ins Stadion

SelhurstSoweit zur Theorie. Wie aber hört und fühlt sich dass nun an? Dreißig Minuten vor Anpfiff leert sich der Pub schlagartig, der „Fanatics“ Tross läuft in Richtung Selhurst Park. Singend. Die Straße gehört den Jungs, der rote Doppeldecker-Bus muss anhalten, hupt aber aufmunternd im Takt. Es geht durch eine enge Unterführung, mit ein paar Böllern heizt sich die Stimmung auf. Am Ende des Tunnels wartet eine Polizei-Eskorte und bittet meinen Nebenmann höflich darum, sein aus dem Pub mitgenommenes Bier abzugeben (er darf immerhin noch austrinken). Ein weiterer Fan mit Bierdose am Ende des Zuges kann kaum noch laufen und wird schnell und geräuschlos eingekesselt. Nachfolgende Fans scherzen etwas unsicher: “Throw a snowball, and you’ll be at the back of a wagon…” Dann sind wir auch schon am Stadion und trennen sich unsere Wege, ich nehme Platz im „Arthur Wait Stand“, der Gegengerade, mit direktem Blick auf die „Fanatics“.

SelhurstVor Anpfiff können sie sich noch nicht gegen die laute Pop Musik und die „Crystal Girls“ (die Cheerleadertruppe, die der geneigte Fan auch daheim auf Kalendern betrachten kann) durchsetzen. Doch dann erlebe ich tatsächlich aktiven Dauersupport, trotz mäßigen Spiels. Aus vollem Hals stimmen die „Fanatics“ diverse Lieder an, das Stadion zieht häufig mit. Auf der Gegengerade gibt es eine kleine unabhängige Gruppe die sowohl mitsingt, als auch in den einen oder anderen Wechselgesang einstimmt. Und nicht zuletzt waren wohl auch die 977 Auswärtsfans unter den 17.033 (die Kapazität des Stadions liegt bei 26.309) nach eigenen Aussagen bei guter Stimme. 

Kurzum, es ist Leben auf den Rängen. Aber nicht nur im Block selbst gab es Bewegung: ein Duzend Ordner ist ständig am Hin- und Herlaufen, baut sich immer direkt vor den „Fanatics“ auf, wenn es Standardsituationen in der Nähe gibt bzw. wenn es brenzlig auf dem Spielfeld wird.

Gespielt wurde auch noch

Selhurst ParkDort gastiert im Übrigen mit den Bolton Wanderers ein frischer Premiere League Absteiger der trotz dritthöchstem Marktwert nur auf Platz 16 der auf 24 Teams aufgeblähten zweiten Liga steht. Palace rangiert indessen trotz zuletzt magerer Ausbeute (2 Siege in den letzten 12 Spielen) auf Platz vier mit Tuchfühlung zu Platz zwei, der den direkten Aufstieg bedeuten würde. Dort waren sie zuletzt in der Saison 2004/05, sind aber ansonsten aber seit 1998 regelmäßig in Liga 2 vertreten. 

Glenn Murray ist mit seinen 22 Treffern und 7 Assists in 23 Spielen ein nicht unwesentlicher Bestandteil im Angriff der Londoner, und auch heute befördert er das Spielgerät vor der Halbzeitpause über die Linie. Der Jubel ist jedoch kurz, der Schiedsrichter entscheidet auf Abseits. Im Verlauf des Spiels erarbeitet sich Palace zwar ein deutliches Übergewicht, läuft sich jedoch immer wieder am Strafraum fest. 

Selhurst ParkSo bleibt es torlos, aber durch die „Fanatics“ dennoch lebendig (obwohl sie im Nachhinein behaupten, heute nicht ihr Bestes gegeben zu haben). Heute hat sich einmal mehr gezeigt, dass die Attraktivität von Fußballspielen nicht nur durch das (oft mittelprächtige) Geschehen auf dem Rasen bestimmt wird, sondern dass eine aktive Fan-Szene und damit auch eine füreinander und zueinander stehende Gemeinschaft einen viel wichtigeren Wertbeitrag leisten kann. Die „Fanatics“ haben bewiesen, dass so etwas in England durchaus möglich sein kann, wenn man als Fangruppe engagiert und leidensfähig ist. Es bleibt zu hoffen, dass es ähnlich erfolgreiche Nachahmer geben wird.

Anmerkung: Das zweite Foto von oben (Choreo) stammt vom Spiel Crystal Palace gegen Southampton im Frühjahr 2005!

Fotos: Marco Bertram (Archivbild), Felix Natschinski

> zur turus-Fotostrecke: Crystal Palace – Bolton Wanderers

 

Der Artikel ist im englischen Original auf www.GroundhoppingEtc.com zu finden. Dort und auf www.facebook.com/GroundhoppingEtc berichtet Felix über seine Stadionerlebnisse, u.a. in Berlin, London oder Prag.

Benutzer-Bewertungen

In diesem Beitrag gibt es noch keine Bewertungen.
Hast du schon ein Konto?
Ratings
Bewertung / Kommentar für den Artikel
Datenschutz
Durch das Anhaken der folgenden Checkbox und des Buttons "Absenden" erlaube ich turus.net die Speicherung meiner oben eingegeben Daten:
Um eine Übersicht über die Kommentare / Bewertungen zu erhalten und Missbrauch zu vermeiden wird auf turus.net der Inhalt der Felder "Name", "Titel" "Kommentartext" (alles keine Pflichtfelder / also nur wenn angegeben), die Bewertung sowie Deine IP-Adresse und Zeitstempel Deines Kommentars gespeichert. Du kannst die Speicherung Deines Kommentars jederzeit widerrufen. Schreibe uns einfach eine E-Mail: "kommentar / at / turus.net". Mehr Informationen welche personenbezogenen Daten gespeichert werden, findest Du in unserer Datenschutzerklärung.
Ich stimme der Speicherung meiner personenbezogenen Daten zu:
Kommentare