Deutschland vs. Italien: Erstaunlich entspannter Fußballausflug nach Warschau

MB Updated

Gegen 15 Uhr rollte am Donnerstagnachmittag der Berlin-Warszawa-Express am Bahnhof Centralna ein. Sieben zusätzliche Waggons wurden an den EuroCity gekoppelt, um möglichst viele deutsche Fußballfans auf dem Schienenweg in die polnische Hauptstadt bringen zu können. Das versprach eine knackige, stimmungsvolle Ankunft. Zwar schien es in den „regulären“ Waggons überaus ruhig herzugehen, doch wer wusste schon, wer alles in den zusätzlichen Wagen auf dem Weg zum Halbfinale der Euro 2012 war.

Gegen 15 Uhr rollte am Donnerstagnachmittag der Berlin-Warszawa-Express am Bahnhof Centralna ein. Sieben zusätzliche Waggons wurden an den EuroCity gekoppelt, um möglichst viele deutsche Fußballfans auf dem Schienenweg in die polnische Hauptstadt bringen zu können. Das versprach eine knackige, stimmungsvolle Ankunft. Zwar schien es in den „regulären“ Waggons überaus ruhig herzugehen, doch wer wusste schon, wer alles in den zusätzlichen Wagen auf dem Weg zum Halbfinale der Euro 2012 war.

Warschau

Das hatten sich wohl auch Dutzende polnische Journalisten gefragt, denn bei Ankunft des von einer in den deutschen Farben lackierten Lokomotive gezogenen Zuges war der Bahnsteig gefüllt mit Kamerateams und Frauen mit Notizblöcken. Im Geiste taten sich bereits Bilder auf. Mit einem lautstarken, im unterirdischen Bahnhof hallenden „Hurra, hurra, die Deutschen, die sind da!“ werden die Waggontüren geöffnet. Schreiende, jubelnde und gestikulierende deutsche Anhänger, die Warschau unsicher machen möchten.

Warschau

Die Realität sah indes völlig anders aus. Fast schweigend betraten die Zuginsassen den Bahnsteig. Brav, zurückhaltend wurde der Weg zur nächsten Rolltreppe gesucht. Für die Medienvertreter hieß es: Ganz fix ein paar Leute herauspicken, die wenigstens ein wenig nach einem emotionalen, heißblütigen Fußballfan aussahen. Fans mit geschulterten Deutschlandfahnen, die einen hübschen Gesang anstimmen und bereitwillig Auskunft geben. Schnell waren die Bilder gemacht, rasch war der Bahnsteig wieder leer. Nicht wenige Anhänger der DFB-Elf suchten den direkten Weg zum Nationalstadion (Stadion Naradowy im. Kazimierza Górskiego w Warszawie), einige spazierten dagegen in Richtung Fußgängerzone, Fanzone oder Altstadt.

Warschau

Genau in jener sollte doch was gehen, oder nicht? Sich sammeln an den Plätzen, Brunnen und Denkmälern. Zu tausenden einen Chor anstimmen. Die Geländer und Brunnen beflaggen. Die wichtigsten Punkte der Altstadt quasi besetzen. Allerdings verlief auch in der Stare Miasto von Warschau der Nachmittag weitaus ruhiger ab, als im Vorfeld vermutet. Mit dem Infoheftchen „Helmut“ in der Hand ließen sich gewiss zahlreiche deutsche Anhänger sehen, doch so richtig nach Fußball und sportlicher Brisanz schnupperte es nicht.

Italia

Entspanntes Stelldichein in den Biergärten und Restaurants. An der Säule Kolumna Zygmunta III Wazy w Warszawie hatten zwischenzeitlich die italienischen Fans eine Mehrheit. Apropos Italien. Bekanntlich zog es nicht zehntausende Tifosi nach Polen, um die Squadra Azzurra bei der Euro 2012 zu unterstützen. Jedoch waren im Vergleich zum italienischen Stimmungsdesaster beim Vorrundenspiel Kroatien gegen Italien in Posen (Poznan) erste Fortschritte erkennbar. Der eine oder italienische Fußballfreund zeigte sich in rechter guter Laune und stimmte ein Liedchen an.
Für beide Seiten galt: Vor Ort waren zahlreiche zahlungskräftige Anhänger, die beim heimischen Ligabetrieb eher nicht in den Stehkurven anzutreffen sind. Von den Vertretern der zahlreichen Ultrà-Gruppierungen ganz zu schweigen. Die extrem hohen Eintrittspreise regeln von ganz allein, wer zum Spiel anreist und wer nicht. 140 oder 250 Euro – je nach Kategorie – für ein Ticket des Halbfinales zwischen Deutschland und Italien?! Zum Vergleich: Ab 99 Euro ist ein Fan mit einer Dauerkarte bei Hertha BSC dabei! Nur zu klar, dass Fans mit schmaler Geldbörse diese Preise bei Europa- und Weltmeisterschaften schlichtweg zu gesalzen sind.

Kaiser

Wer hoffte, auf dem Schwarzmarkt kurz vor Anpfiff noch einmal zuschlagen zu können, sah sich getäuscht. Keine Bewegungen, kein Abrutschen der Preise zehn Minuten vor Spielbeginn. Die Preise standen fest. Punkt. Aus. Basta. Zu haben waren etliche Tickets. Männer mit Pappschildern waren rings um das sehenswerte Stadion Narodowy anzutreffen, die jeweiligen Tickets der Kategorien 1, 2 und 3 waren in Plastikfolien einsehbar. „Tausend“, „Fünfhundert“, „Zweihundert.“ Runde Summen. Klare Abmachungen. Feste Regeln. Keine Diskussionen. Keine langen Gespräche. Kein Verhandeln. Die polizeilichen Einsatzkräfte ließen die Verkäufer gewähren. Ob nach Anpfiff noch der eine oder andere Schwarzmarkthändler von der Polizei aufgegriffen wurde, blieb ungeklärt. Zahlreiche Einsatzfahrzeuge waren rings um das Stadion mit Blaulicht auf Achse.

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Insgesamt blieb es überaus ruhig. Friedlich strömten die italienischen, deutschen und auch polnischen Fans bunt gemischt in die Arena. Gesichtet werden konnten zudem zahlreiche andere Nationen. Pakistanische, algerische, tunesische, koreanische und japanische Zuschauer wurden als Gruppen ins Stadion gebracht. Angeführt von Personen mit Schildern diverser Weltkonzerne. Firmenausflüge der ganz besonderen Art. Erstaunlich war zudem, mit welch einer Seelenruhe manch ein Zuschauer 15 Minuten vor Anstoß den Weg auf seine Tribüne suchte. Die Nationalhymnen hatten somit nicht wenige Zuschauer verpasst.

Pakistan

Friedlich blieb es auch in der Innenstadt und am Ufer Weichsel (Wisla). Selbst ein polnischer (?) Bauarbeiter, der mit übergezogenem Reichskriegsflaggen-Shirt mit seinem Arbeitstrupp durch die Innenstadt zog, sorgte für kaum Wirbel. Dass ältere Passanten erstaunte Blicke warfen, dürfte jedoch nicht wirklich überraschen.
Die meisten polnischen Fußballfreunde beließen es beim klassischen Fußballoutfit. Beim letzten in Polen ausgetragenen Spiel der Euro 2012 zeigten zahlreiche Polinnen und Polen noch einmal die Nationalfarben weiß und rot in Form von Trikots, Mützen, Hüten und aufgemalten Fähnchen.
Zwischen der nachts farbig beleuchteten Slasko-Dabrowski-Brücke und der Swietokrzyski-Brücke befinden sich am westlichen Ufer der Weichsel einige Strandbars, wenn gleich das dortige Ufer aus steinigen Treppen besteht. In einer der Bars gab es Public Viewing auf einem großen Flachbildschirm. Direkt hinter diesem Bildschirm war das am anderen Ufer der Weichsel gelegene Nationalstadion zu sehen. Gemeinsam mit der Slasko-Dabrowski-Brücke, der dahinter befindlichen Eisenbahnbrücke und einem Fernsehturm bildete das Stadion eine grandiose Kulisse.

Policia

Ein lauer Sommerabend, schmackhaftes polnisches Bier – zu warmer Jahreszeit meist mit einem Schuss Himbeer- oder Ingwersirup serviert – und junge Leute, die begeistert dem Geschehen auf dem grünen Rasen beiwohnten. In einer Entfernung von vielleicht einem Kilometer Luftlinie lieferten die deutsche und italienische Nationalelf ein überaus interessantes Spiel ab. Als Balotelli in der 20. Minute den ersten Treffer für den Weltmeister von 2006 erzielt hatte, jubelten nicht wenige polnische Zuschauer in der Strandbar. Jedoch verlief alles mit einem Lächeln - auch auf Seite der Polen, die sich eine Deutschlandflagge auf die Schultern gelegt hatten. Polen und Deutschland – Verbindungen gibt es viele. Auf privater oder beruflicher Ebene und in Form eines Studiums im Nachbarland. Allerdings schien nicht wenigen Polen die Spielweise der Italiener während dieser Europameisterschaft zu gefallen. In der Tat war diese Form des Fußballs nicht mit der vom Sommer 2006 vergleichbar.

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Es wurde dunkel am Ufer der Weichsel und die EM-Partie neigte sich dem Ende zu. Aufregung in der gut gefüllten Strandbar, als Özil es mit einem Elfmeter in der Nachspielzeit noch einmal spannend gemacht hatte. Würden die Deutschen ihrem Ruf noch einmal gerecht werden und den Kopf in letzter Sekunde aus der Schlinge ziehen? Nein, dieses Mal nicht. Italien zog bekanntlich ins Finale ein und trifft dort auf den amtierenden Welt- und Europameister Spanien.

Während aus dem Nationalstadion die Zuschauer strömten, wurde in der Strandbar der Bildschirm abgebaut. Stattdessen fand ein Mischpult seinen Platz, ein farbiger US-Amerikaner legte auf und sorgte für chillige Atmosphäre.
Meine Güte! Wie hat sich während der vergangenen 20 Jahre alles geändert. Warschau – nun eine offene, angenehme Metropole. Eine Stadt, in der man unbesorgt eine Nacht an der Weichsel verbringen kann. In den 90er Jahren war dies noch undenkbar! Ganz zu schweigen davon, wie damals in Polen ein Länderspiel mit deutscher Beteiligung abgelaufen wäre. Old school wird man nur noch im Ligabetrieb antreffen. So viel ist sicher. Diverse Horrorszenarien sind nicht eingetreten. Keine deutschen Horden erlebnisorientierter Rowdys.

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Entspannt, mit einem Hauch Schüchternheit trafen nach Mitternacht die ersten deutschen Fans an der besagten Strandbar ein. Ein paar Bier auf mit Kissen ausgestatten Holzpaletten. In der Ferne leuchtete noch immer das Nationalstadion. Tränen in den Augen? Nicht bei den Deutschen. Enttäuscht gewiss, doch das Leben geht weiter. Gemeinsam wurde bis zum Morgengrauen getanzt und der aufgelegten Musik gelauscht. Als ein deutscher Fan gegen drei Uhr in der Frühe auf Grund des Alkoholkonsums zu übermütig wurde, kamen die beiden polnischen Wachleute und beförderten den Mann in Richtung Ausgang. Diskussionen. Im Übermut fasste der betrunkene Deutsche den kantigen Polen mit dem raspelkurzen Haar an. Das könnte bitter werden! Ein zweiter angetrunkener Deutscher kam zur Hilfe und wollte sich auf den Stuhl des Ordners setzen. Schwupps war dieser weggezogen und der Deutsche lag im Gras. Die Sache drohte zu eskalieren, doch letztendlich machten sich die beiden deutschen Fans torkelnd auf den Weg zum Bahnhof.

4 Uhr in der Frühe. Es wurde bereits wieder hell. In der muffigen Bahnhofshalle von Centralna schliefen zahlreiche Fans auf den Stufen. Die Altstadt wirkte bereits ab ein Uhr nachts wie ausgestorben. Wer jetzt noch Spaß und Geselligkeit suchte, war rund um die Straßen Zlota und Chmielna östlich des Kulturpalastes gut aufgehoben. Hoch die Becher. Typische „Nach-dem-Fußball-Atmosphäre“. Alkoholleichen. Gekreische. Gesang. Wankende Gestalten. Hier wurde einem noch einmal bewusst: Gegen die Niederlande und gar gegen England hätte es in Warschau hoch her gehen können. Angereist wären dann mit Sicherheit auch tausende deutsche Fans und Ultras ohne Tickets. Allein des Vergnügens wegen. Die extrem friedfertige Atmosphäre beim Spiel gegen Italien war gewiss kein Normalzustand, der in Zukunft immer zu erwarten ist.

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Sechs Uhr in der Frühe. Zahlreiche Polen gingen zur Arbeit. Die letzten Fans zogen nun zum Bahnhof. Die Straßen wurden gekehrt. Die Polizei behielt kleinere Grüppchen im Auge. In der Altstadt konnte man indes nun an der alten, restaurierten Stadtmauer auf einer Bank ein kurzes Schlummerchen halten. Danach ein Käffchen in der nun wieder quirligen Stadt und um 9:55 Uhr hinein in den EuroCity nach Berlin. Mit dabei wieder hunderte Fans, die im Anschluss weiterfuhren nach Leipzig, Hannover, Hamburg und Göttingen. Auch auf der Rückfahrt galt: Entspannte Fahrgäste soweit das Auge reichte. Von einem rottigen Sonderzug-Feeling keine Spur. Was nicht heißen sollte, dass kein Bierchen getrunken wurde. Die Schlange im Zugbistro war lang. Der einzige, der ruppig und unfreundlich daher kam, war der dortige Kellner...

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen von der Euro 2012

> Rückblick: EM-Vorrunde 2012 in Poznan 

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