Sibirischer Hauch: Eine Wanderung zur Lesung im Landgasthof Niegisch

 
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Grelles Gegenlicht nahm einem kurzzeitig die Sicht. Sekunden später war es wieder stockfinster, und nur vage konnte man den Verlauf des Weges erahnen. Immerhin mussten die rund fünf Kilometer durch die dunkle Nacht nicht auf der Straße zurückgelegt werden. In den Kurven hätte es als Wanderer, der mal eben um ein Uhr in der Nacht von Schmachtenhagen nach Oranienburg marschiert, brenzlig werden können. Parallel zur Straße wurde ein asphaltierter Fuß- und Radweg angelegt. Diesem zu folgen, war schwer genug. Linke Hand zeichnete sich plötzlich an einem Baum ein Gegenstand ab. Ein Motorradhelm wurde dort befestigt. Aufgestellte Blumen zeugten davon, dass an dieser Stelle kürzlich ein Fahrer verunglückt war. Ich blieb kurz stehen und hielt inne. So etwas zu sehen, geht immer nahe. Stößt man jedoch ganz unverhofft allein in der Nacht in einem Brandenburgischen Wald auf solch eine Unglücksstelle, dann wird es wahrlich gruselig. Und als dann noch ein kleines matt blau leuchtendes Licht mitten im Wald an einem Teich kurz vor dem Ortseingang von Oranienburg zu sehen war, sehnte ich mir doch ein wenig die ersten Häuser herbei. Das kleine hellblaue Licht zog mich in seinen Bann. Eine Spiegelung? Wohl kaum im dichten dunklen Wald. Ein Wassertier, dass nachts sein Phosphor zum Leuchten bringt? Ein aufgestelltes Licht? Ganz kurz überlegte ich, ob ich nicht mal kurz schauen solle. Nach ein paar getrunkenen Gläsern Bier kommt man halt auf solch eine Idee. Dann jedoch malte ich mir aus, wie ich im Morast stecken bleiben und dort verenden würde. Ich hastete weiter und erreichte schon bald Oranienburg und demzufolge auch den dortigen S-Bahnhof. Es war der Abschluss eines überaus interessanten Tags im Norden von Berlin.

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Bereits einige Wochen zuvor erhielt ich die Einladung: Lesung und Musik in einem Gasthof in Oranienburg. Gebongt! Der Magdeburger Autor Jente Knibbiche würde aus seinem neuen Buch „Außenlinien“ lesen. Zwar hatte ich dieses Werk bereits aufgefressen, doch ein paar knackige Passagen dieses wahrlich abgefahrenen Buches mal vorgetragen zu bekommen, hätte sicherlich was. Da auch Andreas Gläser (Baufresse) vor Ort sein würde, machte ich rasch das Häkchen. Teilnahme bestätigt. Erst später schaute ich dann, wo denn dieser Gasthof Niegisch eigentlich genau liegen würde. Oranienburg ist schließlich kein Nest. Und ich staunte nicht schlecht, als ich realisierte, dass sich der Gasthof in Schmachtenhagen befindet und spät abends kein Zug oder Bus mehr fahren würde. So müsste es zurück per Taxi oder halt zu Fuß zum Bahnhof Oranienburg gehen.

Forsthaus

Und wenn es schon zu Fuß zurückgehen würde (eine Taxifahrt schloss ich eher aus), könnte es ja auch auf dem Hinweg per pedes zum besagten Gasthof gehen. Wohl Bekanntes mit dem Neuen verbinden, lautete das Motto am vergangenen Samstag. Hinein in die S-Bahn nach Birkenwerder und von dort aus ins bereits bekannte und ausführlich beschriebene Briesetal. Eine Tour, die man nicht oft genug machen kann. Am Forsthaus Wensickendorf (Alte Försterei) gab es wieder heiße Hühnersuppe und Wildknacker, die jedes Mal - je nachdem, was auf der Flur vor die Flinte kam - anders schmeckt. Zurücklehnen, durchatmen, zur Ruhe kommen.

landschaft

Mit einem Schlenker in östlicher Richtung zur Summter Chaussee ging es schließlich nach Schmachtenhagen-Ost. Der durchquerte Wald erinnerte sehr stark an die in Russland gesehene Wildnis. Ein breiter Weg wurde von Birken eingesäumt, in der Mitte des zweispurigen Waldweges wuchsen Flechten, Moose und kleine Sträucher, die in Brandenburg nicht allzu häufig anzutreffen sind, Wieder einmal zeigte sich, wie spannend die Landschaften zwischen Berlin und Schorfheide sind. Ein steter Wechsel. Monoton wird es nie. Hinter der separat liegenden Siedlung Schmachtenhagen-Ost, in der die Zeit stehen geblieben schien - in einem Garten lief tatsächlich ein Hausschwein spazieren -, änderte sich wieder die Landschaft. Der Wald öffnete sich, und der „Berliner Weg“ führt über Wiesen zum Ortskern von Schmachtenhagen. Zahlreiche aufgestellte Hochstände zeugen davon, dass hier in der Dämmerung im wahrsten Sinne des Wortes richtig die Sau abgeht.

Weg

Ein Blick auf die Uhr. Es war noch etwas Zeit. Also hinein in einen türkischen Imbiss. Im Normalfall verabscheue ich solche Einrichtungen in ländlichen Regionen. Bei einem Bier wurde sich dann doch mit dem türkischen Inhaber, der bereits seit 30 Jahren in Deutschland lebt und zuvor an anderen Stellen - so auch in Brandenburg an der Havel - einen Imbiss geführt hatte. Er plauderte aus dem Nähkästchen, und es war sehr interessant, mal etwas mehr über die Hintergründe solch eines Geschäftes zu erfahren. Als telefonisch eine größere Bestellung reinkam, war auch der Zeitpunkt gekommen, rüber zum Landgasthof Niegisch zu wechseln.

Bereits von draußen war Musik zu hören. 18.30 Uhr - und die Party war bereits in vollem Gange? Kaum vorstellbar. Ein Blick in den rechts befindlichen großen hohen Saal: Zahlreiche ältere Leute kamen dort zusammen und feierten gemeinsam den Internationalen Frauentag nach. Nein, das hätte ich nicht erwartet. Was für eine grandiose Räumlichkeit! Ein Gasthof aus alten Zeiten - und noch heute werden in dem Saal alle möglichen Feierlichkeiten ausgetragen. Schön, dass es so etwas noch gibt. Klingt banal und nach dem berühmten Phrasenschwein. Ist aber so! Wie viele Ortschaften hatte ich bereits auf Wanderungen und Radtouren gesehen, in denen inzwischen tote Hose herrscht. Solch ein Gasthof ist doch ein Hauptgewinn für jede Ortschaft. Einfach nur was essen gehen, abends gesellig ein Bierchen schlürfen oder als große Gruppe ein Fest feiern.

außenlinien

In diesem Fall stand neben der Seniorenfeier im linken kleineren Raum die Lesung an. „Oi! The Nische“. Musik-Kenner werden diesen Namen schon mal gehört haben. Herausgegebene Kassetten und Platten, veranstaltete Feten und Konzerte - seit 2003 treibt er sein „Unwesen“. Ich hatte ja nicht ahnen können, dass der gute Mann aus Schmachtenhagen kommt und eben diesen Gasthof Niegisch betreibt. Dass solch eine in Oi-Kreisen bekannte Größe es schafft, zahlreiche Leute zu einer Veranstaltung aufs Land zu locken, verwunderte mich nicht. Davon ganz abgesehen durfte ich die letzten Jahre auf Wanderungen erkennen, dass die coolsten Veranstaltungen eben nicht im überfüllten Berlin, sondern an überaus interessanten, mitunter auch skurrilen Punkten, stattfinden. Man muss halt nur wissen, wo.

Lesung

Es war Samstagabend, Zeit war reichlich vorhanden, die Leute trudelten nach und nach ein. Gegen 21 Uhr konnte schließlich die Lesung mit Jente stattfinden. Als irgendwann in der Nacht der musikalische Part begann, befand ich mich bereits auf dem nächtlichen Weg gen Oranienburg. Und der Gasthof? Was für eine positive Überraschung! Von daher gibt es an dieser Stelle die klare Empfehlung: Wandern im Briesetal, einkehren am Forsthaus, weiter durch die Wälder und dann zum Abschluss ein paar Bierchen im Gasthof Niegisch. Man kann ja nachts auch ein Taxi nehmen…

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Wandern im Berliner Umland

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  • Brandenburg

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