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Gruselfahrt vorbei am Friedhof: Mit der Eisenbahn nach Dolni Slask (Niederschlesien)

 
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Mitte der 90er Jahre existierte noch eine Direktverbindung mit dem Zug von Berlin nach Jelenia Góra (Hirschberg), gelegen im Vorland des Riesengebirges. In der Gegenwart ist diese Ecke Niederschlesiens (Dolni Slask) ein wenig ins Abseits gerutscht, zumindest was das Schienennetz betrifft. Wer sich in der Gegenwart von Berlin aus mit der Eisenbahn auf den Weg nach Jelenia Góra machen möchte, der hat die Qual der Wahl. Entweder mit dem Eurocity nach Wegliniec und von dort aus weiter mit dem Koleje Dolnoslaskie (Schienenbus), oder mit dem Nahverkehr über Cottbus und Görlitz zum Reiseziel.

Auf Grund der zweistündigen Wartezeit in Wegliniec bietet sich unter normalen Umständen die zweite Variante an. Recht fix geht es mit dem Regionalexpress nach Cottbus und von dort aus weiter mit der Ostdeutschen Eisenbahn nach Görlitz. Das VBB-Ticket für den RE der Deutschen Bahn muss man im Vorfeld kaufen, das Ticket der ODEG ist dagegen im Zug erhältlich. In Görlitz bleibt Zeit für ein Käffchen im historischen Bahnhofsgebäude, bevor es mit dem Regionalexpress, der von Dresden nach Wroclaw (Breslau) fährt, das kurze Stück über die Neiße nach Zgorzelec geht. Am Automaten ist das Ticket für die schätzungsweise drei Kilometer Fahrt nicht erhältlich. Im Zug kontrolliert wird während der fünf Minuten in der Regel auch nicht.

In Zgorzelec heißt es aussteigen. 40 Minuten Aufenthalt. Wer mit einer weiteren Tasse Kaffee geliebäugelt hat, sieht sich auf diesem Bahnhof getäuscht. Ein reiner Umsteigebahnhof mit neu errichteten Bahnsteigen und mehreren Wartehäuschen. Das alte Bahnhofsgebäude ist längst verrammelt worden, und auf dem Gelände rings herum sagen sich Hase und Fuchs gute Nacht. Alles halb so wild, denn in der Regel steigt man dort am helllichten Tag um und der moderne Zug nach Jelenia Góra trifft ein paar Minuten früher ein. Nachdem rangiert wurde, fährt er an der anderen Seite des Bahnhofs vorbei, hält kurz und tuckelt schließlich in Richtung Riesengebirge.

Sonntagnachmittag. Noch lugt die Sonne zwischen den Wolken hervor. Mit rund 35 Kilometer pro Stunde rattert der moderne Schienenbus über die scheinbar uralten Schienenstränge der eingleisigen Bahnstrecke. Da dam, da dam, da dam dam dam. Die Zweige der Büsche und Bäume kratzen an den Fenstern. Romantisch ist´s. Da fällt kaum ins Gewicht, dass der Zug für die 76 Kilometer fast zwei Stunden braucht. Der Fahrpreis von 16 Zloty (rund vier Euro) ist zudem wirklich fair.
Landschaft geschaut und einen Blick in die neueste Ausgabe der „11 Freunde“ geworfen. Mal wieder heiteres auf der letzten Seite. Günter Hetzer zieht wieder mächtig vom Leder. Plötzlich schiebt sich ein Zettel zwischen meinen Augen und der Zeitschrift. Der junge Zugbegleiter hatte auf Englisch und Polnisch ein paar Worte raufgekritzelt. Völlig herausgerissen aus Hetzers Kolumne verstehe ich sprichwörtlich nur Bahnhof.

Und schon hält der Zug. Sämtliche Fahrgäste sollen einfach mitkommen, ein Bus stehe für uns bereit. In der Tat, auf dem traurig anmutenden Bahnhofsvorplatz von Luban steht ein Kleinbus, bei dem die hinteren Scheiben komplett verdunkelt sind. Wäre einem dies in den 90er Jahren auf dem Balkan passiert, hätte man ein echtes Bauchgrimmen bekommen. Aber so? Hinein in den Transporter, der erstaunlich vielen Fahrgästen Platz bietet. Allerdings sind die Reihen bereits gefüllt. Auf acht zusteigende Reisende kommen zwei freie Sitze. Passt schon.
Mit gutem Tempo legt der Fahrer los. Weltuntergangstimmung. Es donnert und aus den finsteren Wolken entladen sich Wassermassen. Die verdunkelten Seitenscheiben lassen das Ganze noch dramatischer erscheinen. Viele Kurven. Warme, muffige Luft im Innern. Aus der Magengegend kommt ein erstes Feedback: Diese Fahrt kommt einfach zu sehr aus der Kalten und schmeckt nicht wirklich.

Anderen Fahrgästen ergeht es ähnlich. Vor mir hält sich eine Frau eine Tüte vor das Gesicht. Zuerst muss der Bahnhof von Olszyna Lubanska angefahren werden, dann geht es zum abseits der Hauptstraße gelegenen Bahnhof von Ubocze. Mit Schwung um die Kurven, durch einen schmalen Tunnel zum vielleicht einsamsten Haltepunkt von ganz Niederschlesien. Unter düsteren Gewitterwolken ist das Szenario perfekt. Ein alter Friedhof direkt am winzigen, halb verfallenen Bahnhofsgebäude. Niemand steigt ein und aus. Schweiß steht auf meiner Stirn. Grund ist weniger der Friedhof, sondern diese unerträgliche Luft. Und dieses Desaster noch bis Jelenia Gora. Vorbei an den Haltepunkten von Mlynsko, Rebiziw, Kwiecizowice, Stara Kamienca und Rybnica. Hier werden noch mehr Kotztüten gebraucht – so viel ist klar!

In Gryfów Slaski die nächste Überraschung. So fix wie es in diesen erbärmlichen Kleinbus ging, so schnell waren wir auch wieder draußen. Umsteigen war angesagt. Mit dem Zug ging es die letzten Kilometer weiter bis Jelenia Góra. Gott sei Dank! Drei Kreuze. Wieder dieses geliebte „Da dam, da dam, da dam dam dam“. Die Hetzer-Kolumne lese ich nicht weiter. Von Alkoholexzessen möchte ich nichts wissen, der Magen muss sich erst einmal vom Schock erholen. Der Blick nach draußen. Die Berge nähern sich und schon bald sind in einem Talkessel die Gebäude von Jelenia Góra zu sehen. An einem historischen Bahngebäude ist noch schwarz auf weiß ein halbzerblättertes „Hirschberg“ zu lesen...

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus zahlreichen Ecken Polens

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