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Abenteuer in Brasilien: Mit dem Schiff den Amazonas hinauf

 
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Es gibt viele abenteuerliche Dinge, die man auf der Erde unternehmen kann. Eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, Klettern im Himalaya, Radfahren in Ägypten und Kanutouren in Alaska. Oder eben eine Fahrt auf dem Amazonas. Und zwar mit einem Linienschiff, das fast nur von den Einheimischen benutzt wird. Tagelang geht es von Belém aus den Amazonas hinauf nach Santarém und Manaus. Endlose Regenwälder an den Ufern des Flusses und Schlafen in der Hängematte auf den luftigen Decks. Zeit zur Besinnung oder zum Plausch mit den Brasilianern bei einem eiskalten Bier und einem Kartenspiel. Wer einmal solch eine Tour unternommen hat, der wird sich sein Leben lang gern dran erinnern.

 
 
Der Autor, Fotojournalist und turus-Redakteur Marco Bertram (35) bereiste im Sommer 1996 sieben Wochen lang Brasilien. Nach einem Aufenthalt in Rio de Janeiro, einer Bergtour im Itatiaia-Nationalpark und einem Abstecher nach Brasilia und Goiânia ging es weiter nach Belém, von wo aus es mit verschiedenen Schiffen den Amazonas hinauf nach Santarém, Manaus und Anori ging. Dieser Abschnitt der Brasilien-Tour war wohl mit der schönste und aufregendste zugleich.
 
Im Frühjahr 2008 kehrte Marco Bertram noch einmal nach Brasilien zurück, um sein Buch "Saudade do Brasil" fertigzustellen. Das Buch wird im Herbst 2009 erscheinen und wird unter anderem einen Vergleich Rio de Janeiro 1996 - 2008 ziehen. 
Ausführlich berichtet wird in dem Brasilien-Buch zudem über die tagelange Fahrt auf dem Amazonas. Neben den Anekdoten an Deck gibt es auch einiges an Hintergrundwissen zu lesen.
Exklusiv für das turus Magazin an dieser Stelle ein Ausschnitt des Amazonaskapitels:
 
 
Die Fahrt von Santarém nach Manaus:
 
Ich war sehr amüsiert, als ich die Leute beim Anbringen ihrer Hängematten beobachtete. Bei dieser Tätigkeit war sich jeder selbst der nächste. Rücksicht wurde keine genommen, jeder hängte seine Matte dort auf, wo ein wenig Platz verfügbar war oder vielmehr verfügbar schien. Ob man als Reisender als erster oder letzter das Schiff betrat, war im Grunde genommen völlig egal. Wenn man sich nicht gegen die anderen Passagiere durchsetzte und seinen Platz hartnäckig verteidigte, hatte man verloren und wurde von fremden Körperteilen regelrecht erdrückt. 
Eine Frau faulenzte in einer hübsch mit Spitzen und gerafften Schläufchen verzierten Hängematte, die aussah wie ein schwerer Fenstervorhang. Meist waren die einheimischen Hängematten schmuckvoll, robust und sehr schwer. Bereits einige Male wurde Kathrins Schlafutensil in Bezug auf dessen Leichtigkeit von den anderen Frauen bewundert und belobt. 
Die Brasilianer schlummerten, dösten und warteten darauf, dass das Schiff gegen 18 Uhr in Richtung West-Amazonien abfuhr. Von Zeit zu Zeit kam ein Händler an Bord und bot Apfelsinen, gefüllte Teigtaschen oder klitschigen Kuchen an. 
Für 35 Reais ging es mit der Leão III von Santarém nach Manaus. Dieses Schiff besaß kein Oberdeck und somit musste man den ganzen Tag zwischen den Hängematten und Bänken an der Reling verbringen. Ein weiterer Platz war die Bugspitze, wo Kathrin und ich unser Nachtquartier für die erste Nacht aufschlugen. Wegen der engen Platzverhältnisse war das Deck der Leão III nicht nach Frauen und Männern getrennt. Jeder schlief dort, wo gerade ein Plätzchen und ein freier Haken für die Hängematte zu finden war. 
 
 
Gegessen wurde an einem schmalen Tisch, der an der Reling heruntergeklappt wurde. Beim Speisen schaute man auf das Wasser und den Uferstreifen. Das Abendbrot erfolgte stets vor Einbruch der Dämmerung, um dem Einfall der Insektenschwärme zu vermeiden. Doch es geschah, dass der Dieselkocher eines Abends seinen Dienst versagte. Reis und Bohnen wurden zu fortgeschrittener Stunde und eingeschalteter Deckbeleuchtung aufgetragen. Das duftende Essen und vor allem das gelbliche Licht der Lampen über den Tischen lockten tausendfaches Viehzeug an. Mücken, Nachtfalter und Käfer, die augenblicklich ohne zu zögern zubissen, gesellten sich zu den hastig essenden Passagieren.
Die Käfer glichen äußerlich den in Mitteleuropa heimischen Kartoffelkäfern, waren jedoch im Gegensatz zu den europäischen Vertretern sehr lästig und beißwütig. Kaum ließen sie sich auf dem Arm nieder, verspürte man einen stechenden Schmerz. Schnippste man sie genervt weg, konnte man sich darauf verlassen, dass sie mit den Beinen zuerst aufkamen und wie festgeklebt an Wand, Stuhlbein oder einer anderen Person verharrten. 
 
Verfiel ich bei den abendlichen Beißattacken der Käfer fast in Panik, so nahmen die Brasilianer die kleinen Panzertiere eher gelassen zur Kenntnis, zerknackten sie zwischen Daumen und Zeigefinger und warfen sie achtlos in den Fluss. Die Lampen wurden von den schwirrenden Fluginsekten verdunkelt und an ein friedvolles Abendbrot war nicht zu denken. Nichts ahnend stellte ich einen Plastikbecher mit Frischwasser auf den Tisch. Minuten später tummelten sich Wassertierchen im Becher, die munter auf und niedertauchten. 
Von den Insektenattacken abgesehen, verliefen die zweieinhalb Tage Flussfahrt bis zur Ankunft in Manaus bis auf einen kleinen Vorfall verhältnismäßig ruhig. Ein junger Brasilianer hatte sich ein Bein gebrochen und zwang somit die Schiffsbesatzung zum schnellen Handeln. An einem morschen Holzsteg eines allein stehenden Hauses brachte der Kapitän das Schiff zum Stehen. Bedrohlich knarrten die Holzpfähle beim Anlegen. Der Steg war für Anlegemanöver eines solch großem Wasserfahrzeug nicht ausgelegt. Ein paar Worte des Kapitäns genügten und der Besitzer des Hauses glitt mit seinem Motorboot über die Wellen dahin. Hinten lag der verletzte, in Decken eingehüllte Jugendliche. Ziel war die nächstliegende Ortschaft. Es war beachtlich, wie zügig dem verletzten Jugendlichen in dieser fast menschenleeren Gegend geholfen werden konnte.
 
Stunden darauf erreichten auch wir die kleine Stadt am Nordufer des Amazonas. Händler mit Orangen und Kokosnüssen warteten bereits im Hafen auf uns. Kinder mit zerzausten Haaren hangelten sich an der Seite hoch und boten den Leuten in Folie eingepacktes Eis an. Der Hafen der Stadt hatte nur diese eine Anlegestelle. Da zeitgleich ein weiteres großes Schiff aus der Gegenrichtung den Hafen erreichte, musste es auf der zum Wasser zugewandten Seite unseres Schiffes festmachen. Egal, ob man an Bord oder von Bord ging, egal, ob achtjährig oder achtzigjährig - jeder musste den halsbrecherischen Spalt zwischen den beiden Schiffen mit artistischen Einlagen überwinden. Akrobatisch hangelten sich Männer und Frauen mit Latschen an den Füßen von Reling zu Reling. Es war ein Wunder, dass niemand ins Wasser fiel, denn der Abstand war wegen der seitlich angebrachten Reifen beachtlich groß. 
Mitten in der Nacht sollten wir in einem der drei Häfen der Millionenstadt einlaufen. Meine Erwartungen waren diesbezüglich besonders groß. Was hatte ich nicht alles zuvor gehört und gelesen. Ich dachte an das rosafarbene Opernhaus - das Teatro Amazonas - und an Werner Herzogs Film »Fitzcaraldo«, in dem Klaus Kinski die Hauptrolle spielte. 
Ein paar Stunden vor Ankunft kamen wir mit den Besatzungsmitgliedern ins Gespräch. Zigaretten schmauchend blickten sie in Richtung Westen auf die tiefrote Färbung des Horizonts. Dort, erzählte man uns stolz, dort sei die überwältigend große Stadt Manaus. Eine gigantische Stadt, die nachts ihr Licht hunderte Kilometer weit wirft. Ich starrte auf die hellen Stellen des Himmels und war der Meinung, sie wurden wohl eher von der untergehenden Sonne hervorgerufen. Möglicherweise waren es auch Spiegelungen der flimmernden, feuchtheißen Atmosphäre der Tropen. 
 
Der alte Kapitän zeigte auf das Kreuz des Südens und wir machten ihn auf den Großen Wagen aufmerksam, der nördlich am Himmel stand und kopfüber in den Urwald zu stürzen drohte. Es war ein eigenartiges Gefühl, beide markanten Sternzeichen auf einmal sehen zu können. Das bekannteste Zeichen des nördlichen Sternhimmels und das der südlichen Hemisphäre. Wir befanden uns in unmittelbarer Nähe des Äquators und somit sah man weite Teile beider Himmelsphären. 
Als wir dem grauhaarigen Kapitän erklärten, dass man in Europa nicht das Kreuz des Südens sehen könne, grübelte er und mochte dieser Tatsache nicht so recht Glauben schenken. Himmel sei doch Himmel, lautete sein Einwand. Kurze Zeit später fragte er uns ganz im Vertrauen, mit der Hand zog er uns ganz dicht zu sich heran, welcher Ozean zwischen Europa und Brasilien liege. Er habe einst gehört, dass sich auf der einen Seite Südamerikas der Pazifik und auf der anderen der Atlantik befände, doch könne er diese nicht auseinander halten. Seine Besatzung brauche er gar nicht erst befragen, diese wüssten es sowieso nicht und würden nur unschuldig mit den Schultern zucken. Aber wir, wir würden es mit Sicherheit wissen, denn unser Flug nach Brasilien führte schließlich über den entsprechenden Ozean. 
 
Ich war überrascht. Da fuhr der gute Mann jahrzehntelang den Amazonas auf und ab und wusste nicht, in welches Weltmeer dieser Strom seine Wassermassen flutet. Amüsiert teilte ich Kathrin meine Verwunderung mit und wurde von ihr sogleich gescholten. Über das Unwissen der Leute mache man sich nicht lustig, erklärte sie mir. Was könne der Mann dafür, dass er niemals eine vernünftige Schule besuchen konnte. Meiner Meinung nach war für solch ein Grundwissen keine gute Schulbildung nötig, doch wollte ich mit Kathrin nicht weiter darüber diskutieren. 
 
Manaus rückte immer näher. Manaus - eine Stadt, über die ich zuvor unterschiedliche Dinge gelesen hatte. Stinkender Industriemoloch am Rio Negro, aufstrebende Stadt zur Zeit der Jahrhundertwende, preisgünstige technische Geräte in der Freihandelszone und Einkaufsflieger aus Rio de Janeiro und anderen großen Städten. Spezialgeschäfte für Guaraná in jeglicher Form und Konsistenz, Kautschukboom und stinkende Favelas, schwimmende Häfen, Metropole im tropischen Regenwald, Zentrum ganz Amazoniens. Und da war wieder Fitzcaraldo. Wieder fielen mir die Filmaufnahmen ein. Manaus. Die Oper. Das Schiff, auf dem die Musik aus dem Grammophon abgespielt wurde. Der endlose Urwald. Der Rio Negro ...
 
(Das Buch "Saudade do Brasil" von Marco Bertram wird 2023/24 erscheinen) 
 
 
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