Schweizer Ventilklausel: Zuwanderungsproblematik überfordert die Alpenrepublik

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Schweizer Ventilklausel: Zuwanderungsproblematik überfordert die Alpenrepublik

Schweizer AlpenSeit 2002 ist das Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Schweiz in Kraft. Auf Schweizer Seite hat man auf Schutzmaßnahmen wie beispielsweise Maßnahmen gegen Lohndumping verzichtet. Streng ideologisch der Marktlehre folgend, wird sich der Markt von selber regulieren. Zehn Jahre lang hat die Regierung an dessen Selbstheilungskräfte geglaubt und nichts getan und daher traf die hohe Zuwanderung das Land völlig unvorbereitet. Die Folgen sind gravierend. Während globale Konzerne und deren Chefetage, Baubarone, Land- und Immobilienbesitzer sowie hochqualifizierte Zuwanderer quasi über Nacht unglaublich reich wurden, steht der Rest als Verlierer da – auch der deutsche Steuerzahler. 

7.700 Menschen wanderten im November 2012 in die Schweiz ein. Das sind hochgerechnet rund 100.000 in einem Jahr. Das klingt nach nicht viel. Doch für ein Land, dessen Städte mit über 100.000 Einwohnern man an einer Hand abzählen kann, ist es eine nur schwer verkraftbare Menge. Und es kommen immer mehr. Seit die Schweiz die Personenfreizügigkeit mit den EU-Staaten auf ihr Land ausgedehnt hat, ist die Bevölkerung um eine Million Menschen auf acht Millionen angeschwollen. Das rasante Wachstum überfordert das kleine Alpenland. 

Damals, vor der Volksabstimmung über die Einführung der Personenfreizügigkeit versprach die Regierung euphorisch das Blaue vom Himmel. Es würden nur dringend benötigte Spezialisten kommen und Menschen aus Nicht-EU-Ländern kämen gar nicht mehr. Die Sorge vor einer hohen Bevölkerungszunahme sei daher unbegründet. Von der Zuwanderung würden alle profitieren. Zehn Jahre später wiederholt die Regierung die Sätze wie eine CD in der Endlosschlaufe, zunehmend verbissen betonen die Landesvertreter, dass die Zuwanderung nur Vorteile bringe. Negative Folgen seien keine zu erkennen. Dabei spürt mittlerweile jeder, dass da etwas gründlich schief läuft.  

ZürichJa, profitiert haben einige. Zum Beispiel die Baubarone. Denn durch die Zuwanderung fehlt es an Wohnungen. Und egal wie viele Wohnungen am Ende des Monats auf den Markt geworfen werden, die Zahl der Neuzuzügler übertrifft die Zahl der neuen Wohnungen. Wer eine Immobilie besitzt, macht nun den großen Reibach, denn der Wert hat sich verdreifacht, verfünffacht, verzehnfacht, je nach Lage. Viele ehemalige Bauern sind nun Millionäre. Die Vermieter strahlen um die Wette. Sie werfen reihenweise ihre alten Mieter aus den Wohnungen, verdoppeln, verdreifachen die Miete. In der Stadt Zürich kennt jeder so eine Geschichte oder ist selbst davon betroffen. Immer mehr Menschen können sich das Leben in Zürich oder Genf nicht mehr leisten.

Nicht alle Zuwanderer kommen aber trotz aller Beteuerungen der Regierung aus der EU. Immer mehr indische Informatiker sieht man. Sie verdrängen - wenn die Gerüchte stimmen - die teureren Schweizer Informatiker bei den Banken. Die Zahl der Russen hat sich verdoppelt. Die Kosovaren bilden nach wie vor eine der größten Zuwanderergruppen. Aus Europa sind in erster Linie Normal- und Geringqualifizierte gekommen. Immer deutlicher wird, dass sie nicht diejenigen Jobs besetzen, für die es in der Schweiz keine Bewerber gibt, vielmehr stehen sie in direkter Konkurrenz mit den Einheimischen und buhlen um die gleichen Jobs. Sie arbeiten aber zu viel tieferen Löhnen und massiv schlechteren Arbeitsbedingungen, zudem müssen sie nicht jedes Jahr in den Armeedienst einrücken. Immer öfters werden ältere einheimische Arbeitskräfte durch jüngere, billigere Arbeitskräfte aus der EU ersetzt. 

BaselMan soll mich hier nicht falsch verstehen. Ich habe nichts gegen Zuwanderer. Sie nehmen nur ihre Chance wahr, sind bemüht, freuen sich auf die Schweiz und möchten gut ankommen. Sie leiden noch viel mehr darunter, dass sich die Schweiz in keinster Art und Weise auf die zu erwartende Zuwanderung vorbereitet hat und viele Zuwanderer wünschen sich ebenfalls eine Verlangsamung des Bevölkerungswachstums. Ich möchte viel mehr auf die Mechanismen hinweisen, welche auf ein auf den „freien Markt“ ausgerichtetes Europa wirken (so wie es sich Brüssel eigentlich vorstellt), wenn keine Schutzmassnahmen für die Arbeiter eingebaut werden. In einem Europa mit derart großen finanziellen Unterschieden, findet keine Anpassung nach oben statt. Die unteren Ränge können sich vielleicht etwas verbessern, die oberen Ränge steigen ab.

Die größte Zuwanderung erlebt das Alpenland von bildungsfernen Schichten. Sie werden mit Herzenslust ausgebeutet. Richtig widerlich. Ich frage mich, wie es die portugiesischen Bauarbeiter, die osteuropäischen Altenpfleger oder die Deutschen in Hotels und Restaurants schaffen, angesichts ihres lächerlich geringen Verdienstes so nett zu sein und ihre Arbeit mit einer so hohen Arbeitsmoral zu verrichten. Die Profite der Wirtschaft, die Kosten dem Steuerzahler. Mehr Menschen brauchen mehr Schulen, mehr Krankenhäuser, mehr Straßen und Bahnschienen, Supermärkte und Hallenbäder. Es braucht mehr Staatsdiener wie Lehrer und Polizisten. Natürlich nimmt der Staat auch mehr Steuern ein, sie stehen vor allem aufgrund der tiefen Unternehmenssteuern aber in keinem Verhältnis mit den Kosten der Zuwanderung. Krampfhaft sucht der Staat nach Mehreinnahmen. Bei den Reichen, die ebenfalls aufgrund der tiefen Steuern in Scharen in die Schweiz eingewandert sind (und sich so der Steuerpflicht in ihrer Heimat entziehen) holt man diese Mehreinnahmen nicht. Das wäre doch reichlich unhöflich und undankbar. Die restlichen 90 Prozent müssen dafür blechen. 

Manch Schweizer wünscht sich, dass die Personenfreizügigkeit nie eingeführt worden wäre. Früher war das Leben viel einfacher. Man bekam einen Job zu einem guten Lohn, eine schöne Wohnung war einfach zu finden, die Bahnpreise fair, im Quartier sprach man Schweizerdeutsch. Heute haben sogar staatsnahe Betriebe ganze Abteilungen in Billigfirmen ausgelagert. Der Arbeitgeberverband machte auch gleich klar, dass diese Entwicklung gut sei, denn der Lohn müsse nicht zum Leben reichen. Daher weht also der Wind. Kein Land auf der Welt entlöhnt ihre Chefetage besser als die Firmen in der Schweiz. 

SchweizDie ganze Schweiz wird zugebaut. Malerische Landschaften weichen Betonsiedlungen, immer höher in die Berge reicht das Häusermeer, eine Wanderung entlang der vielen Seen ist mittlerweile ein Spaziergang vorbei an teure Villen. An Ausflugszielen steht man sich auf die Füße, Bergwanderwege gleichen manchmal Ameisenstraßen. Züge und Straßen sind voll, zum Ausbau fehlen der Platz und das Geld. Velowege sind selten, Fahrräder sind daher nur für erfahrende Radler eine Alternative. Familien rutschen plötzlich unter die Armutsgrenze und werden aufgrund der hohen Mieten in die Peripherie verdrängt. Gleichzeitig kündigte die Bahn an, dass sich ihre ohnehin schon sehr hohen Preise verdoppeln sollen. So versucht sie, ihr Kapazitätsproblem zu lösen. Wer ein Eigenheim besitzt, bezahlt plötzlich höhere Steuern, weil sein Haus mehr wert ist. 

Die Hälfte der Arbeitslosen in der Schweiz sind Zuwanderer. Da drängt sich der Verdacht auf, dass manche Europäer nur einen Weg gesucht haben, ins Schweizer Sozialsystem zu rutschen. Nirgendwo in Europa erhält man höheres Arbeitslosengeld. Wahrscheinlicher ist, dass Zuwanderer als erste wieder entlassen werden. Der Wirtschaft ist das ganz recht. Eine klamme Arbeitslosenkasse benützen sie gerne als Vorwand, um Forderungen nach einem Abbau der Sozialleistungen zu verlangen. 

BaselUnd die Landesregierung? Ein Jahrzehnt lang hat sie im Verbund mit der Wirtschaft jede Kritik am Abkommen mit der EU mit harten Bandagen bekämpft. Sie hat das getan, was sie am liebsten tut: Probleme wegzureden, auszusitzen. Sie reagiert nur. Streng nach ihrem Dogma. Wachstum ist gut für alle. Was macht es für einen Sinn, wenn Hunderte von deutschen Ärzten in die Schweiz ziehen, die man hier eigentlich gar nicht braucht, in Deutschland aber fehlen. Die Schweiz bekommt sie zum Nulltarif. Aufgrund der attraktiven Lohnbedingungen kann es sich das Alpenland leisten, jährlich nur eine kleine Zahl von Ärzten auszubilden. Deutschland holt sich daher ihre Ärzte in Polen oder Griechenland, diese leiden dann unter Ärztemangel und bleiben auf den Ausbildungskosten sitzen. Die finanzschwachen Länder verlieren also laufend ihre besten Kräfte an Hochlohnländer. 

Ganz ähnlich sieht es im Pflegebereich aus. Das Schweizer Gesundheitssystem würde ohne die deutschen Pfleger kollabieren. Trotz großer Nachfrage gibt es in der Schweiz zu wenige Ausbildungsplätze. Man fragt sich ganz generell, wie lange die Schweizer Betriebe noch bereit sind, junge Menschen auszubilden. Es gibt in ganz Europa genug gute Arbeitskräfte, die man ausgebildet übernehmen und ausbeuten kann. Sollen doch die anderen für die Kosten aufkommen. Die eigene Jugend bleibt auf der Strecke. Ist das die Europäische Idee? Dass die Menschen Europas in die wirtschaftlich starken Länder ziehen und die Peripherie verödet? 

SchweizDas Muster ist immer das Gleiche in der Schweiz, es scheint, dass die Politik keinerlei Lernfähigkeit vorweist: Die Regierung weigert sich, einen Misstand zu beheben. Also werden Volksinitiativen lanciert. Voraussichtlich 2014 werden zwei Vorlagen zur Abstimmung kommen, welche die Zuwanderung begrenzen wollen. Die stetig steigende Zuwandererzahl und erstmals steigende Arbeitslosenzahlen sind Vorboten eines heißen Abstimmungskampfes. Und es kommt noch dicker. Ende 2012 übte einer der einflussreichsten Wirtschaftsführer im Lande öffentlich vernichtende Kritik an der Personenfreizügigkeit. Was für ein Tabubruch. Nun gab es kein Halten mehr. Politiker und Wirtschaftsführer aller Couleur meldeten nun ihre Bedenken an. Selbst die Drohung, dass die EU eine Beschränkung der Zuwanderung niemals akzeptieren werde, hat keine Wirkung mehr. Hier glauben immer mehr Menschen, dass die Verträge mit der EU der Schweiz nur Nachteile gebracht haben und man die Beziehungen getrost abbrechen kann.

Anmerkung: Der Schweizer turus.net-Autor Kalleman studierte Europäische Ethnologie und wohnt und arbeitet in Zürich. 

Fotos: Marco Bertram

> zur turus-Fotostrecke: Impressionen aus der Schweiz

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